Der Schleimpilz Physarum polycephalum besteht aus einer einzigen Zelle – und doch hat er eine Art Gedächtnis.
Foto: Nico Schramma / MPI-DS

Der Schleimpilz Physarum polycephalum besteht aus einer einzigen Zelle, dehnt sich im Extremfall über mehrere Quadratmeter aus und kann Entscheidungen über die Richtung seines Wachstums aufgrund von so etwas wie einem Gedächtnis treffen – und all das ohne zentrales Nervensystem. Wie das überhaupt möglich ist, haben nun deutsche Wissenschafter herausgefunden: Der Organismus verwebt dazu über Botenstoffe Erinnerungen an Nahrungsorte in die Architektur seines netzwerkartigen Körpers.

Weder Tier noch Pflanze oder Pilz

Die Fähigkeit, Informationen zu speichern und abzurufen, wurde bisher nur mit Lebewesen in Verbindung gebracht, die ein Nervensystem besitzen. Der einzellige Schleimpilz Physarum polycephalum straft diese Annahme allerdings Lügen, denn auch er hat diese Fähigkeit entwickelt. Er kann Erfahrungen über seine Umgebung speichern und nutzen, wie Mirna Kramar und Karen Alim vom Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation (MPI-DS) und der Technischen Universität München (TUM) herausfanden.

Von Physarum polycephalum sind Forscher schon lange fasziniert. Das einzigartige Wesen aus der Grenzregion zwischen Tier-, Pflanzen-und Pilzreich gewährt Einblicke in die frühe Evolutionsgeschichte der Eukaryonten, zu denen auch wir Menschen gehören. Obwohl Schleimpilze Eigenschaften von Tieren und Pilzen gleichermaßen vereinen, zählen sie zu keiner der beiden Gruppen, sondern bilden in der Systematik der Biologie eine eigene Einheit.

Größte Zelle der Erde

Der Körper von Physarum polycephalum ist im Grunde eine riesige Einzelzelle, die aus miteinander verbundenen Röhren besteht. Diese bilden ein Netzwerk, das einige Quadratzentimeter, manchmal sogar mehreren Quadratmeter groß werden kann, womit sich diese Kreatur im Guinness-Buch der Rekorde den Titel als größte Zelle der Erde gesichert hat. Sein ausgeklügeltes Talent, sein röhrenförmiges Netzwerk an eine sich ändernde Umgebung anzupassen, brachte ihm das Attribut "intelligent" ein. Er nutzt dieses Netzwerk als Gedächtnis – und das funktioniert ganz ohne Nervensystem oder ein organisierendes Zentrum.

Mittels Mikroinjektion haben die Forscherinnen die Strömung in Physarum farblich markiert.
Foto: Bjoern Kscheschinski / MPI-DS

Wie die beiden Forscherinnen herausfanden, webt der Organismus Erinnerungen an Nahrungsorte direkt in die Architektur des netzwerkartigen Körpers ein und nutzt die dabei gespeicherten Informationen bei zukünftigen Entscheidungen. "Es ist sehr aufregend, wenn sich ein Projekt aus einer einzigen experimentellen Beobachtung entwickelt", sagt Alim, Leiterin der Forschungsgruppe Biologische Physik und Morphogenese am MPI-DS in Göttingen und Professorin für die Theorie biologischer Netzwerke an der TU München.

Netzwerkarchitektur als Gedächtnis

Als die Forscherinnen die Fortbewegung und die Nahrungsaufnahme des Organismus verfolgten, fanden sie einen deutlichen Abdruck der Nahrungsquellen im Muster der dickeren und dünneren Röhren des Netzwerks, der auch lange nach der Nahrungsaufnahme noch beobachtbar war. "Angesichts der schnellen Reorganisation des Netzwerks von P. polycephalum, weckte die Persistenz dieses Abdrucks bei uns die Idee, dass die Netzwerkarchitektur selbst als Gedächtnis der Nahrungsorte dienen könnte", sagt Alim. "Allerdings mussten wir zunächst den Mechanismus entschlüsseln, der hinter der Bildung der Netzwerkmusters steckt."

Dazu kombinieren die Forscherinnen mikroskopische Beobachtungen der Anpassungen des röhrenförmigen Netzwerks mit theoretischer Modellierung. Ein Kontakt mit Nahrung löst im Inneren der Zelle die Freisetzung einer chemischen Substanz aus, die sich vom Fundort der Nahrung durch den gesamten Organismus bewegt und die Röhren im Netzwerk weicher macht, so dass sich der Organismus neu auf die Nahrung ausrichtet. "Dort wo die Röhren allmählich weicher werden, kommen auch die noch vorhandenen Abdrücke früherer Nahrungsquellen ins Spiel. Dort wird die gespeicherte Information abgerufen", sagt Kramar, Erstautorin der Studie im Fachjournal "Pnas". "Vergangene Nahrungsaufnahmen sind in die Hierarchie der Röhrendurchmesser eingebettet, konkret in der Anordnung von dicken und dünnen Röhren im Netzwerk."

Universelle Prinzipien

Für die nun transportierte Weichmacher-Chemikalie wirken die dicken Röhren im Netzwerk wie Autobahnen im Verkehrsnetz und ermöglichen einen schnellen Transport durch den gesamten Organismus. Allerdings fließen auch frühere Nahrungsorte, die in der Netzwerkarchitektur eingeprägt sind, in die Entscheidung über die künftige Bewegungsrichtung mit ein, wie die Forscherinnen herausfanden. Die Fähigkeit von Physarum, Erinnerungen zu bilden, ist angesichts der Einfachheit dieses lebenden Netzwerks verblüffend. "Es ist bemerkenswert, dass der Organismus einen so einfachen Mechanismus verwendet und ihn dennoch auf so fein abgestimmte Weise kontrolliert", sagt Alim.

"Das stellt ein wichtiges Puzzlestück zum Verständnis des Verhaltens dieses uralten Organismus dar und weist darauf hin, dass dem Verhalten von Lebewesen universelle Prinzipien zugrunde liegen. Wir sehen mögliche Anwendungen dieser Erkenntnisse bei der Entwicklung von intelligenten Materialien und dem Bau von weichen Robotern, die durch komplexe Umgebungen navigieren", meint Alim. (red, 27.2.2021)