Im Gastkommentar widmet sich Wolfgang Schreiner von der Medizinischen Universität Wien dem Lockerungsdilemma in der Pandemie.

Ursprünglich hieß es: "Koste es, was es wolle" und drückte aus, dass Gesundheit und Menschenleben keine Verhandlungsmasse sind. Dies wird nun aufgeweicht, und manche sehen anscheinend Alternativen. Die Debatte spitzt sich zu: Weiterhin Lockdown oder doch öffnen?

Eine Anti-Corona-Maßnahmen-Demonstrantin im Jänner. Gesundheit, eine Frage der Perspektive?
Foto: Christian Fischer

Während Expertinnen und Experten sowie die Regierung mühsam abwägen, demonstrieren Hunderte auf den Straßen Wiens, durchaus aggressiv: weg mit den Masken und anderen Corona-Maßnahmen, weg mit der Regierung, her mit der Freiheit, die angeblich ohne nachvollziehbare Gründe eingeschränkt wurde. So wird es gebrüllt und von vielen Medien wiedergegeben.

Doch was bedeutet öffnen? Niemand von jenen, die danach rufen, sagt es klar dazu. Höchste Zeit, Farbe zu bekennen.

Ökonomischer Schaden

Solange nicht durchgeimpft ist, bedeutet jede Corona-Infektion mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bleibende Schäden oder den Tod. Auch wenn diese Wahrscheinlichkeit klein ist, gehen doch alle an Covid Verstorbenen darauf zurück – man findet sie auf dem Dashboard. Wer die Anzahl der Infizierten erhöht, steigert damit auch die Anzahl der Dauerschäden und Todesfälle. Genau das tun jene, die nach Lockerungen oder gar Aufhebung der Maßnahmen rufen.

Sie tun das aber nicht ohne Grund. Tatsächlich stehen soziale und wirtschaftliche Werte gegen allzu strenge Maßnahmen. Simulationsexperten haben bereits berechnet, welche Maßnahmen wie stark wirken, in Relation zu andern. Angenommen, es könnte daraus die Anzahl von Infektionen berechnet werden, die eine Maßnahme, etwa das Schließen von Geschäften, vermeidet, und welcher ökonomische Schaden dabei entsteht. Daraus ergibt sich sogleich der "Wert" eines vermiedenen Toten oder Dauergeschädigten in Euro.

Würde sich irgendein Rufer nach Lockerungen getrauen, hier einen konkreten Grenzbetrag zu nennen? Nur so könnte aber eine Maßnahme beziehungsweise deren Weglassen schlüssig argumentiert werden. Angenommen, man würde darüber abstimmen: Wie viel Prozent der Bevölkerung würden ab 10.000 Euro öffnen lassen? Oder erst ab 100.000 Euro? Wie groß wäre der Unterschied, wenn geheim oder offen abgestimmt würde?

Kennzahl für Lebensqualität

Tatsächlich sind ähnliche Schätzwerte bereits im Umlauf. Sie heißen QALYs (Quality Adjusted Life Years) und geben an, wie viel zusätzliche Lebensjahre – gewichtet nach Qualität – eine bestimmte Therapie erbringt. Angelsächsische Kassen bezahlen Therapien nur bis zu 30.000 Pfund pro gewonnenem QALY. Ein entscheidender psychologischer Unterschied besteht allerdings: Verweigert man eine Therapie aus Kostengründen, geht das zu Herzen – man sieht den Patienten konkret vor sich und scheut sich. Rennt man auf einer Demo gemeinsam mit Hunderten ohne Maske, ist kein direkter Schaden sichtbar, und man tut das wesentlich leichter. Auch wenn der Schaden nur "statistisch" entsteht und man den (die) betroffenen Menschen nicht kennt, wird er (werden sie) dennoch tot sein.

Überraschend ist, dass auch Gegner der Corona-Maßnahmen ihr Leben lang Helme und Sicherheitsgurte benutzen. Auch hier ist die konkrete Wahrscheinlichkeit (eines Schadens) verschwindend klein, die meisten fahren lebenslang mit Gurt oder Helm, ohne ihn wirklich zu brauchen. Wir erinnern uns an die abstrusen Argumente gegen Gurte: "Ich bin so beengt" – oder: "Wenn das Auto ins Wasser stürzt, muss ich angeschnallt darin ertrinken." Heute sind Helm und Gurt Normalität. Mag die Wahrscheinlichkeit im Einzelfall auch noch so unbedeutend erscheinen – die hohen Zahlen von Involvierten machen sie bedeutsam. Im Fall von Helm und Gurt merken es die Versicherungen an den Schadenssummen. Im Fall von Covid sind es "nur" die wenigen massiv betroffenen oder gar verstorbenen Patienten.

Vor jedem Ruf nach Covid-Lockerungen sollte man sich dieses Dilemma vor Augen halten. Auch wenn die Berechnung von Schaden und Nutzen (QALYs) komplex wäre und wir den resultierenden Betrag für Österreich nicht kennen, läuft jede Entscheidung de facto darauf hinaus: Was wir tun, verschiebt den Grenzbetrag in die eine oder andere Richtung.

Ein Bärendienst

Abgesehen vom Schaden an Leib und Leben – sicher ist nicht einmal der wirtschaftliche Vorteil: Was nützen die paar gewonnenen Tage mit Urlaubsgästen, wenn ein zuvor wunderbarer Skiort weltweit in Misskredit gerät? Herrschten dort Leichtsinn statt Umsicht? Wie viel Euro Gewinn bringt die Verweigerung einer sofortigen Quarantäne von ein paar Tagen im Vergleich zum Schaden einer freigesetzten Virusvariante, die jene Impfung obsolet macht, in die hunderte Millionen an EU-Geldern geflossen sind? Die Steuerzahler dürfen sich bedanken – auch jene im Ausland –, sie haben mitgezahlt. Sie werden künftig ihre Urlaubsziele wählen. Landespolitiker haben eines bewiesen: Sie können Bärendienste erweisen, nicht nur einzelnen Orten, sondern dem ganzen Land.

Wenn alle Fachleute zur Vorsicht raten und Lokalpolitiker dies ablehnen, setzen sie den "Wert des Lebens" niedriger an als den des wirtschaftlichen Gewinns ihrer Wählerschaft und des eigenen Machterhalts. Eigentlich haben sie beides verspielt und sind damit untauglich für Berufe, in denen sie Verantwortung für andere tragen. (Wolfgang Schreiner, 20.2.2021)