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Nie endender Abschied: Georges-Arthur Goldschmidt.

Foto: Getty Images / Corbis / Sophie Bassouls

Wer einmal ins Exil getrieben wurde, kommt lebenslang nicht mehr davon ab." Mit diesem Kern- und Leitsatz beginnt gleichsam die Nachbetrachtung eines Lebens, das von dieser Erfahrung geprägt ist. Ganz ähnlich lautet übrigens ein zentraler Satz in Jean Amérys 1966 erschienenem Buch Jenseits von Schuld und Sühne: "Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert." Man wird das nie mehr los.

In all seinen Büchern schreibt der französisch-deutsche Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt vom Trauma der Entwurzelung, vom Heimatverlust. Im Alter von zehn Jahren musste er 1938 seine deutsche Heimat verlassen, genauer: Die Eltern schickten ihn und den Bruder nach Frankreich in Sicherheit.

Zunächst in einem Internat in Savoyen untergebracht, dann bei Bergbauern versteckt, entgingen sie der Deportation, aber die ständige Gefahr wurde ebenso bewusst erlebt wie die traumatisierenden Gewalterfahrungen im Internat. Das Grundthema der Verfolgung, das Ausgestoßen-, das Fremd- und Geduldetsein, beherrscht Goldschmidts erzählerisches und essayistisches Werk.

Grenzerfahrung

Wie sein älterer Bruder blieb auch er nach 1945 in Frankreich, zunächst in einem jüdischen Waisenheim, ihre Eltern haben sie nie mehr gesehen. 1949 wurde Goldschmidt französischer Staatsbürger, seither ist der Autor, der später an französischen Gymnasien Deutsch unterrichtete, in beiden Sprachen zu Hause – auch das eine Grenzerfahrung, im wechselseitigen Sinn: Das Französische wurde als Sprache der "hospitalité", des Schutzes, erfahren, durch sie kam ihm die Muttersprache zurück, oder wie er an anderer Stelle schreibt: Man brauche die andere Sprache, um auf Distanz bleiben zu können.

Von Distanz als Folge des Verlusts handelt Goldschmidts Werk. Dieses Lebensthema wird in der schmalen autobiografischen Prosa Vom Nachexil noch einmal beschworen, in ihr wird noch einmal alles zusammengefasst, wovon Goldschmidt in Büchern wie Ein Garten in Deutschland (1988), Die Absonderung (1991) oder Über die Flüsse (2001) bis ins Schmerzvolle hinein und gleichzeitig in Distanz zum Schmerz geschrieben hat.

Insgesamt 18 Bücher liegen auf Deutsch vor, zwei davon in der Übersetzung Peter Handkes, einige hat Goldschmidt entweder auf Deutsch verfasst oder selbst ins Deutsche übersetzt.

Das sagt viel über die Polarität aus, in die sein Leben hineingeriet. "Das Exil", schreibt Goldschmidt in diesem Band, "läßt einen nie los, es sitzt einem in der Brust. Das Sonderbare am Exil ist die Schärfe dieser Grenze, die zwei geographische unvereinbare und doch ineinander verwobene Beschaffenheiten voneinander trennt."

Das Heimweh abstoßen

Die Exilerfahrung ist eine sprachliche, noch dazu gegensätzliche Erfahrung, denn man nimmt sich ins Exil die "Heimwehsprache" mit. Gleichzeitig sieht sich jeder Exilant mit der Anforderung konfrontiert, das Heimweh abzustoßen. Das muss irgendwann zum Dilemma werden, wenn die zur "Mördersprache" gewordene Muttersprache "grottentief" in einem lagert und weiterwirkt.

Eine Sprache, die die Nazis "für immer korrumpiert, geschändet" haben, wurden mittels ebendieser doch Millionen Menschen ermordet. Und doch: Der zum Franzosen gewordene Jürgen-Arthur, der sich nunmehr Georges-Arthur nennt, studiert in Frankreich Germanistik, übersetzt später Goethe, Büchner, Kafka, Handke ins Französische.

Aber dass Sprache Rettung bedeutet, daran haben auch Goldschmidts Familie und seine Vorfahren in Deutschland geglaubt. Ihre Assimilation begann im 19. Jahrhundert, sie wurden protestantisch, fühlten sich als Deutsche. Auch Goldschmidt wächst als Kind nicht anders auf als "mit der Deutschheit verwachsen" – "alles war deutsch an ihm", schreibt er über sich und in Distanz zu sich selbst (der Wechsel zwischen Ich- und Er-Perspektive ist eine prägende Formalität in seinem Werk).

Wunderbare Muttersprache

Und dann diese Erfahrung, wie die Familie, meilenweit vom Judentum entfernt, plötzlich in dieses zurückgestoßen wird: 1937 schließt der Pastor im Heimatdorf den damals Neunjährigen vom Kindergottesdienst aus, ihn, der sich "bis in die heimlichsten Fasern seines Wesens" als deutsch empfand.

Vom Judesein wusste das Kind damals so gar nichts, es marschierte sogar mit einem Schulfreund und schmetterte "Die Fahne hoch" und "Die Juden schmeiß raus" durch die Straße. Auch das bedeutete die "wunderbare Muttersprache", die nun als Lingua Tertii Imperii ihren Schatten nicht mehr loswurde.

Erst in Frankreich, mit der französischen Sprache, als ihm Pascal, Voltaire, Rousseau den Weg zum selbstständigen Denken öffneten, wusste der Exilant, dass er sich seiner jüdischen Herkunft nicht zu schämen hatte. Und dennoch verging das Trauma der Trennung nie. "Das Exil", so Goldschmidt, "ist der nie endende Augenblick des Abschieds, auf den man sich lange vorbereiten muß, um nicht vom Heimweh zerrissen zu werden." Die Heimat musste schließlich zwischen den Sprachen gefunden werden. (Gerhard Zeillinger, 23.1.2021)