Stellen Sie sich vor, Sie sind um die 80 Jahre alt. Sie fühlen sich fit, Ihr Hausarzt ermahnt Sie dennoch immer wieder, auf Ihre Ernährung zu achten, weil die Werte schon einmal besser waren. Risikopatient? Sie doch nicht! Sie informieren sich regelmäßig über Corona und die Maßnahmen und versuchen diese seit Monaten einzuhalten, obwohl Ihr Leben dadurch extrem eingeschränkt wird. Ihre Kinder und Enkel haben Sie nur hin und wieder getroffen, solange es erlaubt war. Sie haben gelernt, mit dem Smartphone zu telefonieren, selbst das mit der Videotelefonie klappt schon ganz gut, obwohl der Empfang auf dem Land zu wünschen übrig lässt. Es geht schon irgendwie, aber ohne körperliche Nähe, ohne Umarmungen ist das doch kein Zustand!

Einige Bürgermeister haben sich in den letzten Tagen impfen lassen, obwohl sie laut Impfplan noch nicht an der Reihe gewesen wären.
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Über die Medien erfahren Sie, dass die Corona-Impfung der einzige Weg ist, damit im Sommer wieder alles normal wird, wie der Bundeskanzler verspricht. Sie sehen Jubelbilder von ersten Geimpften, die Ihnen Hoffnung machen, dass auch Sie bald an der Reihe sind. Im Fernsehen läuft eine Kampagne, die signalisiert, dass alles extrem einfach ist. Einfach anmelden, impfen gehen – und schon ist das Familienfest zum nachgeholten runden Geburtstag im Sommer in Reichweite.

Sie versuchen sich über die Impfung zu informieren. Am Anfang heißt es, zunächst kommen alle Personen in Pflege- und Altersheimen an die Reihe, Sie müssen sich noch ein wenig gedulden. Vielleicht ist es im März so weit. Dann gibt es Kritik an der langsamen Durchführung, die Politik verspricht als Antwort mehr Geschwindigkeit und erteilt den Bundesländern den Auftrag für die Umsetzung. Sie fragen Ihren Hausarzt, wann es denn nun so weit sei. Dieser hat zunächst aber noch keine Information bekommen und vertröstet Sie auf später.

Konfliktpotenzial

Zu Hause schlagen Sie die Zeitung auf und erfahren, dass es Schwierigkeiten mit den Impfstoffmengen gibt, was den Fahrplan verzögern könnte. Wie lange konkret? Das kann Ihnen auch Ihr Bekannter, der sonst immer alles besser weiß, nicht schlüssig beantworten. Ein Lichtblick: Ihre Tochter ruft Sie an und erklärt, dass Sie sich nun über das Internet für die Impfung voranmelden können. Gemeinsam wird das mit etwas Mühe erledigt. Wann der tatsächliche Termin stattfindet, ist noch unklar, es gibt keine konkreten Informationen. Sie stellen sich auf eine Wartezeit ein.

Doch dann, Sie können es kaum fassen: Der Bürgermeister Ihrer Gemeinde, der mit Ihrem Sohn in die Schule gegangen ist, hat eine Impfung bekommen, weil im örtlichen Pflegeheim noch eine übrig gewesen sei. Ohne Anmeldung, einfach so. Sie verstehen die Welt nicht mehr und fragen sich, wollen die mich foppen? Ihre Tochter verwendet viel gröbere Ausdrücke. Im Fernsehen tritt ein geimpfter Bürgermeister auf, er schafft es nicht einmal, sich glaubwürdig zu entschuldigen*.

Tatsächlich werden immer mehr Fälle von Vordränglern bekannt, die sich schneller einen Impfschutz besorgen. Diese Einzelfälle, sofern sie nicht begründet sind, bergen extremes Konfliktpotenzial. Es ist eine Sauerei gegenüber jenen, die selbstverständlich vorzureihen sind. Deshalb sind Bund und Länder gefordert, hier konsequent zu handeln und Maßnahmen zu ergreifen, damit Bevorzugungen vor dem Schutz der Vulnerablen verunmöglicht werden, bevor die Stimmung in der Bevölkerung kippt. (Rainer Schüller, 21.1.2021)