Mit der Covid-19-Impfung, die zumindest wieder etwas Normalität verspricht, stellen sich auch ethische Fragen. Braucht es eine Impfpflicht? Wie kann man eine möglichst hohe Impfbereitschaft erzielen? Und läuft alles auf Immunitätspässe hinaus? Die Politikwissenschafterin und Angehörige der Bioethikkommission und des Corona-Fachrats des STANDARD, Barbara Prainsack, beantwortet ethische und gesellschaftliche Fragen der STANDARD-Community rund um die Covid-19-Impfung.

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Impfpflicht, Immunitätsnachweis oder Freiwilligkeit: Wie soll oder muss mit der Aussicht auf eine baldige Impfung umgegangen werden?
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Frage: Sie haben im STANDARD-Interview gesagt, dass eine Impfpflicht aus ethischer Sicht nicht zulässig sei. Können sich die Regierung und die Pharmakonzerne mit der Freiwilligkeit bei der Impfung aus der Verantwortung stehlen?

Barbara Prainsack: Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Es ist in der Tat so, dass die Freiwilligkeit von Maßnahmen nicht nur den Handlungsspielraum der Menschen erweitert, sondern auch die Verantwortung für die Folgen auf sie überträgt. Trotzdem ist eine Impfpflicht anders zu bewerten als viele andere Maßnahmen. Eine Impfpflicht stellt einen Eingriff in die körperliche Integrität dar, und um das zu rechtfertigen, braucht es sehr gewichtige Gründe.

Bei einer Impfung, von der wir weder die Langzeitfolgen kennen noch wissen, ob sie vor der Weitergabe des Virus schützt, ist der Vorschlag einer Impfpflicht meiner Ansicht nach vermessen. Und selbst wenn wir wüssten, dass die Impfung in all diesen Aspekten effektiv ist, wären andere Maßnahmen – wie Dialog und niederschwelliger Zugang zu kostenlosen Impfungen – mit großer Wahrscheinlichkeit wirkungsvoller als eine Impfpflicht. Die Forschung zeigt, dass eine Impfpflicht die meisten Impfgegnerinnen und -gegner nicht dazu bringt, sich impfen zu lassen. Und bei vielen, die zögern, löst eine Impfpflicht Widerstand aus. Das bedeutet: Wenn man möchte, dass sich möglichst viele Menschen impfen lassen, dann ist eine Impfpflicht nicht das richtige Politikinstrument.

Frage: 1977 wurde die Impfpflicht bei Pocken aufgrund der epidemiologischen Lage abgeschafft. Der Erfolg bei der Pockenausrottung würde für eine Impfpflicht sprechen. Warum konnte man diese damals umsetzen?

Prainsack: Die Geschichte der Pockenimpfungen ist etwas weniger schwarz-weiß, als es auf den ersten Blick vielleicht scheint. Zuerst gab es über lange Zeit hinweg Experimente mit Impfungen, die für die Betroffenen, gelinde gesagt, oft nicht gut ausgingen. Dann wurde eine Impfung entwickelt, die sicherer war – und die wurde dann tatsächlich als erste "Massenimpfung" eingesetzt, mit großem Erfolg.

Sehr viele ließen sich impfen, obwohl es damals in Österreich keine Impfpflicht gab – die wurde erst 1939 eingeführt. Zu erklären ist die anfänglich so hohe Impfbereitschaft eher mit einer großangelegten Informationskampagne und der Tatsache, dass die Pocken zum Ende des 19. Jahrhunderts so viele Menschenleben kosteten, dass die Impfung als Rettungsanker gesehen wurde. Trotzdem sank damals die Impfbereitschaft der Bevölkerung rasch wieder ab. Es ist leider so, dass viele Impfprogramme von ihrem eigenen Erfolg bestraft werden: Wenn die Krankheit, gegen die die Impfung schützt, erfolgreich zurückgedrängt wird, dann sinkt die Impfbereitschaft, weil die Krankheit eben keine so große Bedrohung mehr darstellt.

Frage: Es wird zwar keine Impfpflicht geben, aber der User vermutet dennoch einen Zwang. Anreize, Zwang, Konsequenzen – wie kann man die Impfbereitschaft der Menschen am besten erhöhen? Und welche Mittel sind Ihrer Meinung nach ethisch vertretbar, wo wird eine Grenze überschritten?

Prainsack: Anreize halte ich persönlich für akzeptabel – wenn es wirklich nur Anreize sind und keine versteckten Strafen für jene, die nicht mitmachen (können). Natürlich sollte man es den Menschen möglichst einfach machen, sich impfen zu lassen, zum Beispiel indem die Impfung nahe am Wohnort und kostenlos angeboten wird. Auch Informationskampagnen und das Schaffen von Räumen, in denen Menschen, die Bedenken haben, diese äußern und sich von Expertinnen und Experten beraten lassen können, sind sinnvolle Anreize.

Was ich für problematisch halte, sind die nun wieder aufflackernden Diskussionen über "Immunitätspässe". Damit ist die Idee gemeint, dass nur Menschen, die Immunität nachweisen können (aufgrund einer Impfung oder weil sie die Krankheit überstanden haben), bestimmte Dinge tun können wie einkaufen, Restaurants besuchen oder sogar arbeiten.

Frage: Es gibt für manche Länder Impfvoraussetzungen, und derzeit gibt es auch Einreisebestimmungen für manche Länder, wie zum Beispiel das Vorlegen eines negativen Corona-Testergebnisses. So könnten manche Länder einen Immunitätsnachweis fordern, was einer Impfpflicht gleichkommt, um die gewohnte Reisefreiheit wiederzuerlangen. Hätte das Auswirkungen auf die Impfbereitschaft?

Prainsack: Ob es Auswirkungen auf die Impfbereitschaft haben würde, kann ich nicht sagen, weil ich dazu keine Daten habe. Aber auch hier gilt: Lösungen, die jene benachteiligen, die sich nicht impfen lassen können, sind höchst problematisch. Zudem wissen wir noch nicht, wie effektiv eine Impfung gegen Covid-19 vor der Weitergabe des Virus schützt. Wenn letzteres in der Zukunft als gesichertes Wissen gelten sollte, dann wären Erleichterungen für geimpfte Menschen in manchen Kontexten sicher sinnvoll: dass diese dann etwa bei der Einreise in ein Land keinen negativen Test vorweisen müssen und nichtgeimpfte Personen schon. Es darf aber nicht darauf hinauslaufen, dass man die Bewegungs- und andere Freiheiten nichtgeimpfter Personen erheblich einschränkt.

Frage: Läuft es auf einen Immunitätsnachweis hinaus? Wäre es von Betrieben, Veranstaltern, Händlern et cetera, die hohe finanzielle Einbußen durch die Lockdowns hinnehmen mussten, nicht naheliegend, Immunitätspässe zu verlangen?

Prainsack: Immunitätspässe sind nicht nur deshalb eine schlechte Idee, weil Tests nicht immer verlässlich sind oder weil der Zusammenhang zwischen Immunität und Antikörpern ein komplexer ist – oder weil wir nicht wissen, wie lange Menschen immun sind. Sondern auch, weil wir damit Menschen diskriminieren, die sich etwa aufgrund von Erkrankungen nicht impfen lassen können. Ein weiterer Punkt, der in den Debatten zu Immunitätspässen noch viel zu wenig diskutiert wird, ist die Gefahr der Diskriminierung der Immunen: Man kann ja nicht nur durch die Impfung immun werden, sondern auch durch die Krankheit selbst.

Nun zeigen Studien, dass rund eine von sieben Personen, die Covid-19 überstanden haben, unter Langzeitfolgen leidet. In manchen Ländern wurde deshalb bereits darüber diskutiert, ob Menschen, die die Krankheit gehabt haben, höhere Versicherungsprämien bezahlen sollen – weil sie durch zukünftige gesundheitliche Probleme dem Gemeinwesen höhere Kosten verursachen könnten. Auch wenn dies innerhalb des öffentlichen Gesundheitswesens in Österreich glücklicherweise nicht denkbar ist, so stellt sich doch die Frage: Wie stellen wir sicher, dass private Akteure wie zum Beispiel private Versicherungen nicht die Information über den Immunitätsstatus einer Person hernehmen, um diese von bestimmen Leistungen auszunehmen oder höhere Beiträge von ihr zu verlangen?

Frage: Was wiegt schwerer: eine Impfpflicht oder weiterhin Einschränkungen – auch für Geimpfte? Vor allem im Hinblick auf die medizinische Versorgung, wenn weiterhin Corona-Erkrankte die Spitäler überlasten oder die wirtschaftliche Lage durch etwaige Lockdowns prekär wird.

Prainsack: Diese Frage geht von einer falschen Prämisse aus, nämlich dass eine Impfpflicht zu einer höheren Impfquote führt als andere Maßnahmen. Ich teile die Ansicht des Posters, dass wir darauf hinarbeiten sollen, dass sich möglichst viele Menschen impfen lassen. Nur brauchen wir dazu, wie oben erwähnt, andere Instrumente; eine Impfpflicht hat oft den gegenteiligen Effekt.

Frage: Wiegt der Schutz der Pflegebedürftigen mehr als die körperliche Integrität des Pflegepersonals? Besteht Sorge, dass durch eine mögliche Impfpflicht bei Pflegekräften weniger Menschen in Pflegeberufen arbeiten werden?

Prainsack: Ich persönlich bin gegen eine Covid-19-Impfpflicht, egal für welche Berufsgruppe. Und auch die Bioethikkommission hat betont, dass wenn es sich herausstellt, dass eine Impfung effektiv gegen die Weitergabe des Virus schützt, Menschen in Berufen mit intensivem Körperkontakt, die sich nicht impfen lassen können, nach Möglichkeit anderweitig eingesetzt werden und wenn möglich nur noch mit geimpften Menschen in Kontakt treten sollen. Wir unterstützen keineswegs etwa Kündigungen von Menschen, die nicht geimpft sind. Das ist nicht nur symbolisch, sondern auch praktisch wichtig, wie bei der STANDARD-Videodebatte nachzusehen ist.

Aber auch wenn es "nur" um Anreize und Aufklärungsarbeit geht: In Gesprächen mit Menschen in Pflegeberufen höre ich häufig Unbehagen und Frustration über die Tatsache, dass die Überzeugungsarbeit sich auf die Menschen konzentriert, die in der beruflichen Hierarchie ganz unten stehen, angefangen mit den Reinigungskräften – während man es bei Ärztinnen und Ärzten häufig akzeptiert, dass sie sich lieber nicht impfen lassen wollen. Ich halte es für ganz wichtig, dass nicht mit zweierlei Maß gemessen wird.

Frage: Beim Mutter-Kind-Pass gibt es zwar keine Impfpflicht, aber diese beiden unterschiedlichen Standpunkte zielen eigentlich auf das Gleiche ab: individuelle Entscheidung versus gesellschaftliche Verantwortung. Wie stehen Sie als Mitglied der Bioethikkommission dazu?

Prainsack: Ich weiß nicht, woraus der Poster die Behauptung ableitet, unsere Gesellschaft strebe keine Gruppenimmunität an; wenn man eine Impfpflicht ablehnt, bedeutet das ja nicht, dass man nicht mit anderen Mitteln auf eine möglichst hohe Impfquote hinarbeiten möchte.

Wofür ich dem Poster allerdings dankbar bin, ist die Betonung des Solidaritätsgedankens; wenn alle Menschen ihre Entscheidungen über die Impfung, oder auch über andere Maßnahmen zur Bekämpfung Ausbreitung des Virus, nur als Individuen treffen, dann kommen wir aus der Krise niemals heraus. Auch aus diesem Grund haben wir als Bioethikkommission in unserer Stellungnahme betont, dass Freiheit nicht ohne Verantwortung für die Mitmenschen zu haben ist. (Judith Wohlgemuth, 17.12.2020)