Bill Gates, Angela Merkel, 5G oder alle zusammen: Proteste gegen Corona-Schutzmaßnahmen sind ein Nährboden für Verschwörungstheorien.

Foto: Imago Images / Emmanuele Contini

Am vergangenen Wochenende trat in Hannover bei einer Demonstration der "Querdenker" gegen Corona-Schutzmaßnahmen eine junge Frau auf die Bühne und begann ihre Rede mit: "Hallo, ich bin Jana aus Kassel, und ich fühle mich wie Sophie Scholl, da ich seit Monaten aktiv im Widerstand bin ..." Über Jana aus Kassel brauste daraufhin binnen kürzester Zeit ein "Shistorm" in den Social Media und im Web hinweg – ein weiterer trauriger Höhepunkt einer sich zuspitzenden gesellschaftlichen Krise als Folge der Corona-Krise.

Während die einen um Freunde und Verwandte bangen oder trauern, sich vor Jobverlust fürchten oder bereits in der pandemiebedingten finanziellen Notlage stecken, behaupten andere, das Virus gebe es gar nicht oder es sei die Biowaffe einer Weltverschwörung, hinter der "die Chinesen", Bill Gates, Angela Merkel, 5G oder alle zusammen steckten.

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Sicherheit in der Krise

Nicht wenige Freundschaften sind in den vergangenen Monaten zerbrochen oder zumindest auf Eis gelegt, weil die eine Seite an Verschwörungstheorien glaubt und sie weiterverbreitet und die andere darüber fassungslos ist. Aber, so eigenartig es vielleicht klingt: Obwohl Verschwörungstheorien meist eine schreckliche Bedrohung zum Inhalt haben, geben sie manchen Menschen Sicherheit in Phasen großer Unsicherheit. Sie finden einen Schuldigen, geben diffusen Ängsten ein Gesicht und damit vermeintlich ein Stück Kontrolle zurück.

"Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, sind weder dumm noch haben sie eine böse Absicht", sagt die Psychologin und Psychotherapeutin Ulrike Schiesser, Mitarbeiterin der Bundesstelle für Sektenfragen. Bei vielen habe es vielleicht ein frustriertes politisches Engagement gegeben, das dann in der Krise in eine bestimmte Richtung lenke.

Machtlosigkeit

Auch Kristina Stoeckl, Soziologin an der Universität Innsbruck und Mitglied der Jungen Akademie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, sieht im Verlust des Vertrauens in Politik und Institutionen eine der Ursachen: "Menschen, die Verschwörungstheorien anhängen, haben das Gefühl, dass sie keine Macht haben, etwas zu ändern."

Das erklärt vielleicht auch, warum sich bei den Demos gegen Maskenpflicht und Ausgangsbeschränkungen Anhänger der extremen Rechten und Linken und biedere Bürgerinnen und Bürgern jedes Alters zu einer kurzfristigen Allianz zusammentun.

Seit den 1980er-Jahren sei durch die Globalisierung das Vertrauen in den Staat geschwunden, sagt Stoeckl. Staaten verlieren Macht an internationale Konzerne und das Finanzwesen, durch die Restrukturierung von Verwaltung und Institutionen werden immer mehr Entscheidungen fern der Bevölkerung gefällt.

Auch den klassischen Massenmedien, den Kirchen und der Wissenschaft wird teilweise nicht mehr vertraut. In der Pandemie kommt dem Staat plötzlich wieder eine wichtige Rolle zu, persönliche Freiheiten werden zum Schutz der Allgemeinheit eingeschränkt. Das irritiert.

Neues Gemeinschaftsgefühl

Im Zeitalter der Individualisierung und Säkularisierung erzeugen Verschwörungstheorien auch ein neues Gemeinschaftsgefühl. Sie seien Pseudoreligionen, sagt Stoeckl: "Verschwörungstheorien versprechen keine Rettung, aber die, die daran glauben, fühlen sich als die Auserwählten und Opfer." So gesehen verwundert es nicht mehr so sehr, dass sich Jana aus Kassel mit der Widerstandskämpferin Sophie Scholl vergleicht, die von den Nazis hingerichtet wurde.

Menschen, die die Gefahren des Coronavirus leugnen oder eine große Weltverschwörung dahinter vermuten, als "Covidioten" und dergleichen mehr zu bezeichnen, sei jedoch kontraproduktiv, warnt Claus-Christian Carbon von der Universität Bamberg.

Mit seinem Kollegen Marius Raab führt der Ordinarius für Psychologie Experimente durch, die zeigen, wie schnell man Verschwörungstheorien Glauben schenken kann, wenn sie geschickt erzählt werden. Es könne jeder und jedem von uns passieren, dass wir solchen Erzählungen glauben und sie tradieren, sagen die beiden.

Fakten vs. Fake

In einem Experiment legen sie den Probanden Karten vor, auf denen (vermeintliche) Fakten über die Corona-Pandemie stehen, und lassen die Testpersonen entscheiden, was sie als wahr oder glaubhaft und was als falsch oder unglaubwürdig erachten. Bei ihren Experimenten habe sich gezeigt, so Claus-Christian Carbon, dass Menschen sich sehr rasch adaptieren: "Wenn wir ihnen milde absurde Fakten vorlegen, sind sie skeptisch. Wenn wir ihnen aber zuerst extrem absurde Sachen vorlegen, glauben sie nachher die milden absurden Sachen eher."

Marius Raab erklärt, warum das so ist: "Verschwörungstheorien sind oft komplexe, interessante Geschichten, in die man sich hineindenken kann und die einen Aha-Moment enthalten. Gute Geschichten funktionieren immer."

Doch warum hat gerade die Corona-Pandemie so viele Verschwörungstheorien ausgelöst? Das liege einerseits an den Social Media, deren Algorithmen dazu führen, dass Verbreiter dieser Theorien immer mehr davon zu sehen bekommen, bis sie in einer Echokammer stecken, sagen die Expertinnen und Experten.

Andererseits, so Carbon, würden wir Lehrgeld zahlen für Entscheidungen und Direktiven, die nicht gut durchdacht oder geplant waren: "Zum Beispiel wurde wegen des Mangels an Masken die Erzählung verbreitet, diese seien unwirksam" – und jetzt plötzlich ist das Tragen von Masken Pflicht. Auch seien die meisten Staaten nicht auf eine Pandemie vorbereitet gewesen, obwohl man wissen musste, dass irgendwann wieder eine entsteht.

Sorgen und Ängste

Wenn Verschwörungstheorien hetzerisch, antisemitisch, undemokratisch und zerstörend seien, müsse man dagegen agieren, sagt Carbon. Es sei aber falsch, alle Menschen in einen Topf zu werfen oder sich gegenüber Menschen, die Verschwörungstheorien verbreiten, moralisch überlegen zu fühlen.

Ulrike Schiesser von der Bundesstelle für Sektenfragen, die in den vergangenen Monaten viele Anrufe besorgter Angehöriger und Freunde erhalten hat, empfiehlt, gegenüber Verschwörungstheorien klar Position zu beziehen, aber nicht deren Anhänger abzuwerten oder den Kontakt zu ihnen abzubrechen.

Wenn jemand schon tief drinstecke in dieser Welt, habe es aber keinen Sinn mehr, über Fakten zu diskutieren, weil diese Fakten für die Anhänger nicht mehr existieren. Dann solle man besser nach den darunter liegenden Sorgen und Ängsten fragen, um wieder eine emotionale Verbindung herzustellen. (Sonja Bettel, 25.11.2020)