Sie haben mit ihrer Forderung nach sofortiger Schließung aller Schulen für große Aufregung gesorgt und sehen sich einer breiten Front an Gegnern dieser Radikalmaßnahme gegenüber: der Physiker Erich Gornik, Professor für Festkörperelektronik an der TU Wien, der Informatiker Georg Gottlob, Professor an der University of Oxford und an der TU Wien, der Physiker Christoph Nägerl, Professor für Experimentalphysik an der Uni Innsbruck, und der Mathematiker Peter Markowich, Professor an der Uni Wien – alle vier sind Wittgenstein-Preisträger – das ist der höchstdotierte Preis (bis zu 1,5 Millionen Euro) in Österreich im Wissenschaftsbereich –, und sie sind alle auch am Wolfgang-Pauli-Institut in Wien, einem Exzellenzzentrum für anwendungsorientierte Grundlagenforschung in Mathematik, Informatik und Physik aktiv. Hier erklärt Peter Markowich, worum es ihnen im Kern geht: "Um Wachrütteln" der Öffentlichkeit und um die wichtigste Maßnahme gegen die Ausbreitung des Coronavirus: "Kontakte runter! Kontakte runter! Kontakte runter!"

Mathematiker Peter Markowich kritisiert auch die Kommunikationsstrategie zur Vermittlung der Corona-Maßnahmen.
Foto: privat

STANDARD: Sie und Ihre Professorenkollegen Gornik, Gottlob und Nägerl haben am vergangenen Sonntag auf der Homepage des Wolfgang-Pauli-Instituts eine Aussendung platziert, die für viel Aufregung gesorgt hat. Sie fordern darin nämlich die "sofortige Schließung aller Schulen!" Warum?

Markowich: Es geht mir nicht um eine Kampagne dafür, alle Schulen sofort zu schließen, sondern um ein Maßnahmenpaket, wo die Schulschließung ein wichtiger Punkt ist. Laut neuen Studien, zum Beispiel vom Mikrobiologen Michael Wagner von der Uni Wien, scheint es so zu sein, dass die Schulen, sprich Schüler, sprich Kinder und Jugendliche doch ein Treiber der Epidemie sind. Ich kann nicht sagen, wie groß, wie beschränkt oder nicht, aber mir geht's darum, dass sich dieses Virus durch Kontakte ausbreitet. Je mehr Kontakte jeder Einzelne von uns hat, umso mehr Ausbreitung wird es geben, umso schneller werden die Intensivstationen voll und umso schneller muss es Triage geben, weil die Ärzte sonst einfach nicht mehr nachkommen mit den Kapazitäten. Schulen sind Orte des gehäuften sozialen Kontakts – Schüler/Schüler, Schüler/Lehrer, Schüler/Eltern, Eltern/Lehrer und so weiter. Ich habe vor meinem Haus eine Schule, ich schaue zu, wie die Kinder und Halbwüchsigen jeden Tag zu Mittag rausgehen und nach Hause gehen, und ich muss Ihnen sagen, natürlich, das liegt in der menschlichen Natur: von Social Distancing keine Rede!

STANDARD: Stehen Sie auch mit Lehrkräften in Kontakt?

Markowich: Ich kriege E-Mails von sehr betroffenen Lehrern, die hinter vorgehaltener Hand von Clustern in Schulen erzählen, die Angst haben, in die Schule zu gehen und zu unterrichten, die sprechen von überfüllten Klassenzimmern, von der schwierigen Aufgabe, die Schüler auf sichere Weise von Platz A nach B zu bringen. Also witzig ist das alles nicht. Schulen sind für mich ein Ort des sozialen Kontakts wie Shoppingcenter, Sport- oder Singvereine und, ganz wichtig, Kirchen. Und ich bin der Meinung, dass wir es uns zurzeit nicht leisten können, diese Art von Sozialkontakten aufrechtzuerhalten.

STANDARD: Was entgegnen Sie dem Argument, dass nicht ausgerechnet die Kinder durch erzwungenen Bildungsverlust für die Pandemie zahlen sollen?

Markowich: Ich selbst bin das Beispiel eines Bildungsbürgers. Bildung ist mir sehr wichtig, war mir auch bei meiner Tochter sehr wichtig, und mir fällt das alles auch nicht leicht. Auch mir sind Kontakte wichtig, mir ist wichtig, ins Kaffeehaus oder ins Restaurant gehen zu können, aber im Moment geht's nicht, wir müssen darauf verzichten. Dass das volkswirtschaftlich ein großes Problem darstellt, keine Frage, dass es schwer sein wird, die Läden offen zu lassen und die Schulen zu schließen, auch keine Frage. Wie man das volkswirtschaftlich oder ökonomisch löst, weiß ich nicht. Wahrscheinlich ist es am billigsten, wenn man jeder Mutter, jedem Elternteil einen Scheck ausstellt, ich weiß es nicht, ich habe es mir nicht ausgerechnet. Ich weiß nur, Sozialkontakte sind im Moment zu minimieren, und die Schulen sind einfach ein Teil davon. Und noch etwas ist ganz wichtig: Wir haben seit Sommer exponentielles Wachstum in Österreich und ganz Europa, und keiner hat hingeschaut. Und als es wirklich explosiv wurde vor drei Wochen auch nicht. Die Maßnahmen kamen vergangene Woche, die kamen genau um zwei, drei Wochen zu spät. Wir hätten uns dieses ganze Chaos, in dem wir jetzt sind, sparen können.

STANDARD: Sie nannten jetzt neben Schulen auch Kirchen und Einkaufszentren. Warum fordern Sie für die nicht auch die sofortige Schließung?

Markowich: Natürlich für die auch! Absolut, bin voll dafür. Als wir die Aussendung gemacht haben, war mir gar nicht bewusst, dass Kirchen noch offen sind. Ja, natürlich auch Einkaufszentren und Kirchen beziehungsweise andere Orte religiösen Zusammenkommens sperren! Das wird politisch schwer durchzusetzen sein, aber vom wissenschaftlichen Standpunkt her gibt es keinen Zweifel. Wir sind an dem Punkt, den wir vor ein paar Monaten in Italien mit Grauen beobachtet haben, und da muss ich sagen: Das geht jetzt alles nicht mehr, also zusperren.

STANDARD: Wie lange?

Markowich: Der erste Lockdown war fünf Wochen und hat uns heruntergebracht auf eine sehr vernünftige Infektionszahl, hat die epidemiologische Kurve sehr weit abgesenkt. Wenn wir jetzt einen Lockdown haben, der genauso effektiv ist, dann gibt es keinen Grund, den ich sehe, warum es schneller gehen sollte – also noch einmal fünf Wochen. Effektiver als der im Frühjahr wird er nicht werden. Und wenn er weniger effektiv ist, dann weiß ich nicht, ob wir über den Berg kommen. Wenn sich die Regierung morgen trifft und alle diese Maßnahmen umsetzt, Schließen von Schulen, Einkaufszentren, Kirchen, dann kann ich Ihnen noch immer nicht garantieren, dass wir über den Berg kommen, aber es ist unsere einzige Chance.

STANDARD: Sie gehen also fest davon aus, dass wir das ohne einen wirklich harten Lockdown mit scharfen Maßnahmen nicht schaffen werden?

Markowich: Ich kann da nur einen Berater von Donald Trump zitieren, der auf die Frage, ob Trump die Wahl noch gewinnen kann, geantwortet hat: The math is against us, we need a miracle.

Wer Sozialkontakte reduzieren will – und während der Corona-Pandemie ist es ein Muss –, sollte auch die Einkaufszentren sperren, fordern Wissenschafter.
Foto: APA / Roland Schlager

STANDARD: Nach den Herbstferien, ab 2. November, sind die Oberstufen ins Distance-Learning geschickt worden, ihre schulischen Kontakte wurden also gekappt. Allerdings scheint es gegenteilige Effekte zu geben, nämlich dass die Infektionszahlen in dieser Altersgruppe steigen. Wurden da vielleicht auch Fehler in der Kommunikation gemacht? Hätte man den Jugendlichen klarer sagen müssen, dass es nicht reicht, nur den Unterricht ins Jugendzimmer zu verlagern, aber sonst nichts an ihren Kontakten zu ändern?

Markowich: Genau so ist es. Die Kommunikationsstrategie ist ganz schlecht. Ich gehe spazieren und sehe die Jugendlichen im Park ganz eng beisammensitzen, das ist normal, das ist menschlich, nur im Moment halt nicht opportun. Ja, es liegt an den Eltern, es liegt an der Kommunikationsstrategie. Ich habe Kollegen, die haben große Angst vor dem Virus, die haben halbwüchsige Kinder, und die gehen aus und sagen, wir passen schon auf. Ja, das ist schwer, aber ich kann nur sagen: Kontakte runter, Kontakte runter, Kontakte runter! Das ist das Einzige, was das Virus aufhält. Das Hauptproblem in der Kommunikation ist, dass die Öffentlichkeit und auch viele Experten nicht verstehen, was exponentielles Wachstum bedeutet. Das ist so, als ob Sie einen Tsunami am Strand mit stolz geweiteter Brust und beiden Händen aufhalten wollen. Und, wichtig, die einzige Lösung für diese Situation, in der sich die Welt jetzt befindet, ist die Wissenschaft und sonst gar nix.

STANDARD: Es gibt einen besonderen "Aufregersatz" in Ihrer Aussendung, wo Sie schreiben: "Alle, die jetzt gegen Schulschließung reden, müssen dazusagen, dass sie damit für Triage spätestens ab 18. November sind." Den empfand zum Beispiel auch der Leiter der Innsbrucker Kinderklinik, Thomas Müller, im STANDARD-Gespräch als " unwissenschaftliche Aussage, polemisch und ein Ausspielen der Generationen". Würden Sie das heute auch noch genauso sagen?

Markowich: Ja, es ist vielleicht polemisch, aber ich meine: Es geht um Wachrütteln. Heute würde ich vielleicht sagen: Wer auch immer gegen die entscheidende Reduktion von Sozialkontakten ist, der akzeptiert, dass es zu Triage-Situationen in österreichischen Spitälern kommen wird. Vielleicht klingt es so weniger polemisch, aber da geht's darum, die Leute aufzuwecken, und nicht um eine freundliche wissenschaftliche Diskussion.

STANDARD: Beinhaltet die Forderung, alle Schulen sofort zu schließen, auch die Kindergärten? Meinen Sie die mit, oder würden Sie die ausnehmen?

Markowich: Eine ganz schwierige Frage. Ich weiß nicht genau, wie die Datenlage bei Kleinkindern ist. Die Frage ist, wie vorsichtig müssen wir sein? Das müssen die Spitals- und Gesundheitsmanager wissen. Wenn wir wirklich total vorsichtig sein wollen, ist die Antwort ja. Kindergärten schließen ist vielleicht das Allerletzte, was ich tun würde, wobei ich nicht weiß, ob's nicht eh schon notwendig ist. Ich stimme mit vielem von dem, was Mediziner wie Thomas Müller sagen, überein, etwa dass Schulschließung der letzte Ausweg ist. Nur was die Mittelschulen betrifft, bin ich der Meinung, wir müssen eigentlich schon den letzten Ausweg nehmen. Zu den Volksschulen möchte ich jetzt kein gesichertes Statement abgeben.

STANDARD: Wie beurteilen Sie ganz allgemein die Pandemiebewältigungsstrategie der Regierung, wenn wir die Entwicklung von der ersten Welle im Frühjahr bis jetzt anschauen?

Markowich: Im Frühjahr hätte ich ihnen ein 1+ gegeben, jetzt kriegen sie bald ein 4- von mir – oder sagen wir ein 4+, das ermutigt vielleicht. Ich finde es schlecht und einfach lausig, was passiert, aber nicht nur in Österreich, in ganz Europa. Die Infektionskurve für Europa im Vergleich zu Asien ... da gehen einem die Augen auf.

STANDARD: Warum hat sich die "Leistung" so verschlechtert?

Markowich: Das liegt an vielem – natürlich auch am Feedback der Bevölkerung, Pandemiemüdigkeit, ach, ich will nix mehr vom Coronavirus hören, Wirtschaft wieder hochfahren, positive Daten sehen wollen, Schulen um alle Kosten offen lassen, da ist viel davon eingeflossen –, und dann wegschauen, wo es auch immer geht, eine sehr österreichische Qualität. Die müssen in der Regierung einfach bald ihren act together kriegen, weil sonst gehen wir da unter. Das ist jetzt keine Panikmache, das ist die Realität. Wir haben Italien gesehen, wir haben Frankreich gesehen und Spanien, wollen wir das? Nein, ich glaube nicht. Also bitte, dann tut was, kann ich da nur sagen. Was ich im Herbst von der Regierung bis jetzt gesehen habe, ist too little und too late.

STANDARD: Es gibt übrigens Stimmen aus dem Umfeld des Corona-Krisenmanagements der Regierung, die behaupten, Ihre Aussendung sei eine mit dem Kanzleramt konzertierte Aktion, weil Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) bekanntermaßen ja schon länger Schulschließungen haben möchte. Was sagen Sie dazu?

Markowich: Es gibt keine Abstimmung zwischen uns und dem Kanzleramt. Ich hatte noch nie in meinem Leben Kontakt mit einem Mitarbeiter von dort. (Lisa Nimmervoll, 12.11.2020)