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Der Wiener Schwedenplatz wurde am Montagabend Schauplatz eines islamistischen Terrorangriffs.
Foto: Reuters

Der an der Universität Wien tätige Islamwissenschafter Rüdiger Lohlker forscht seit vielen Jahren zu jihadistischem Terror und Radikalisierung. In der Terrororganisation IS sieht er eine dezentrales, dynamisches Milieu, das gezielt junge Menschen über soziale Medien anspricht.

STANDARD: Nach bisherigem Erkenntnisstand war der gestern nach einem islamistischen Terroranschlag in Wien getötete mutmaßliche Täter in Österreich sozialisiert. Sie forschen auch zu Radikalisierung in Österreich: Was weiß man aus der Forschung, wie so eine Radikalisierung hier in Österreich ablaufen kann?

Lohlker: Es gibt dazu mehrere Hypothesen. Häufig ist es so, dass diejenigen, die solche Taten begehen, entweder tatsächlich sozial marginalisiert sind oder sich so fühlen. Sie haben also ein individuelles Problem und werden dadurch angezogen von einer Gemeinschaft, in der sie sich aufgehoben fühlen. In unserer Gesellschaft fühlen sie sich nicht aufgehoben – das ist das große Problem. Wir brauchen daher eine solide jugend- und sozialarbeiterische Tätigkeit, um so etwas aufzufangen. In manchen Kreisen unserer Gesellschaft funktioniert das offenbar nicht automatisch.

Es gibt aber auch genug Leute aus genau den identen Milieus, die nicht jihadistisch radikalisiert werden. Wo also der Schalter umgelegt wird, ist wirklich schwer zu erklären. Nur durch ständige Aufmerksamkeit und Verfolgung auch von Onlinekommunikation kann ein Gefühl dafür entwickelt werden, was sich in dieser Subkultur jetzt gerade tut und wo man aufmerksam sein muss. Eine völlige Kontrolle kann aber kein Land leisten, man kann nicht hinter jedem möglichen Verdächtigen einen Polizisten oder eine Polizistin stellen.

Rüdiger Lohlker ist Professor für Islamwissenschaft an der Universität Wien.
Foto: Universität Wien

STANDARD: Der mutmaßliche Terrorist war ein amtsbekannter Anhänger der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS). Wie hat sich der jihadistische Terror in den vergangenen Jahren verändert?

Lohlker: Die Terrororganisation IS hat zwar in Syrien und im Irak an Territorium verloren. Aber das hat nicht dazu geführt, dass er gewissermaßen geschlagen wäre, wie man damals gehofft hat. Es hat eher dazu geführt, dass er sich globalisiert hat. Wir finden Aktivitäten von Zentralafrika über Westafrika und Nordafrika bis zu den Philippinen, Indonesien und anderen Ländern. Die Meldungen über den Tod des IS sind übertrieben. Das gilt auch für den Onlinebereich, da finden wir auch weiterhin – entgegen Behauptungen etwa von Europol (Europäische Polizeibehörde, Anm.) – leider noch eine sehr rege Aktivität des IS. Nach den Territoriumsverlusten hat der IS etwas proklamiert, was man vielleicht mit "Abnützungskrieg" übersetzen könnte.

STANDARD: Was ist damit gemeint?

Lohlker: Einerseits will der IS in der arabischen Welt einen Guerillakrieg, andererseits will man außerhalb der arabischen Welt immer wieder Anschläge durchführen, die die Präsenz des IS zeigen und die auch eine Ausweitung ihres Operationsgebiets darstellen. Das bringt uns nach Europa: Die letzten Anschläge in Frankreich haben sich hauptsächlich um die Mohammed-Karikaturen gedreht. Darum ist im IS-Milieu online eine rege Kommunikation entstanden.

STANDARD: Wie ist der IS organisiert und was treibt ihn an?

Lohlker: Ich würde eher von einem IS-Milieu sprechen als von einer Organisation. Der IS ist eher eine Subkultur und keine feste Organisation, die beispielsweise Mitgliedsbücher führt. Es ist ein dynamischer Schwarm, der sich immer wieder neu gruppiert und zu dem dann auch Einzelpersonen hinzukommen können. Wir können sagen, dass auch die Messerattentate in Frankreich und jetzt die Schießereien in Wien der europäische Ausdruck dieses Abnützungskriegs sind, nach dem Motto: "Wir setzen die europäischen Gesellschaften unter Druck, wenn sie unserem Bild des Propheten zuwiderhandeln."

Wir müssen uns immer vor Augen halten, dass der IS davon besessen ist, dass es nur einen wahren Islam gibt, und zwar seinen. Alles andere wird als ungläubig gesehen – auch Muslime und Musliminnen fallen darunter. Die Strategie ist: "Wir erlösen die Welt, ob sie will oder nicht." Dazu passt die Strategie, in Restaurants hineinzuschießen, und es ist dabei egal, wer getötet wird.

STANDARD: In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich auch stark mit der Onlinekommunikation im jihadistischen Milieu. Auch der mutmaßliche Attentäter von Wien hat vor der Tat offenbar ein Foto von sich auf Instagram gepostet. Welche Rolle spielen soziale Netzwerke für den jihadistischen Terror?

Lohlker: Soziale Netzwerke spielen für die heutige Kommunikation generell eine wichtige Rolle, besonders bei jungen Leuten. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass auch Terroristen diese Netzwerke nutzen. Gerade der IS hat online eine sehr große Expertise im Ansprechen von möglichen Anhängern entwickelt. Es werden auch Bilder produziert, etwa Aufnahmen mit Munition, an die man ziemlich einfach anknüpfen kann: Ich muss nur diese eine Parole machen, dann gehöre ich dazu, ohne lange theologische Traktate zu lesen. Es wird ein großes Gewicht auf eindrückliche Bilder gelegt, und eine wichtige Gattung von Bildern und Videos sind Mordvideos. Es hat sich ein Bildkanon durchgesetzt, der signalisiert: "Ich bin ein Kämpfer für Gott, ob Gott es will oder nicht."

STANDARD: Sie forschen auch im Bereich der Terrorismusbekämpfung: Wie kann und soll sich eine offene Gesellschaft wie die unsere gegen derartige Taten stellen?

Lohlker: Ich will jetzt keine Medienschelte betreiben, aber die Medien spielen schon eine wichtige Rolle. Wenn Bilder solcher Attentate aufgenommen, verbreitet und immer wieder durchgespielt werden, dann wird das als positives Element aufgenommen nach dem Motto: "Die haben wir in Schrecken versetzt." Es ist hier eine nüchterne und keine sensationsgeprägte Berichterstattung erforderlich. Andererseits brauchen wir Strukturen, die solche Leute im besten Falle auffangen können. Wir haben in Österreich auch in den Gefängnissen eigene Deradikalisierungstätigkeiten, die seit einigen Jahren stattfinden. Wir brauchen koordinierte Anstrengungen, die sich tatsächlich auf die Menschen konzentrieren. Denn es geht zuerst einmal immer um Menschen, bei denen wir verhindern wollen, dass sie von Extremisten gekapert werden.

Solche Initiativen sind auch online möglich: Ich selbst habe ein Videoprojekt mitinitiiert, in dem von jungen Leuten im Alter von 18 bis Mitte 20, die die Szene und die Sprache und Bildsprache kennen, antijihadistische Videos produziert werden. Mit Leuten, die vielleicht nicht gerade der schönen Mittelschichthaltung entsprechen, sondern härter auftreten – aber gerade solche Leute können potenziell gefährdete Leute erreichen. So etwas muss State of the Art sein – Leute abzufilmen, die erzählen: "Nein, das ist nicht mein Islam."

STANDARD: Haben Sie einen Einblick, wie groß die Gruppe der potenziell für Radikalisierung empfänglichen Personen in Österreich sein könnte?

Lohlker: Ich habe leider meine Kristallkugel verräumt, aber im Ernst: Das kann niemand ernsthaft sagen. Wir wissen von über 90 Personen, die nach Syrien gegangen und auch wieder zurückgekommen sind, da kann man leicht hochrechnen, wie viele es sein könnten. Als Wissenschafter brauche ich aber verlässliche Daten und kann das nicht schätzen. (Tanja Traxler, 3.11.2020)