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Früher war die Philosophie eindeutig farbenfroher: Raffaels "Schule von Athen", (1510/11) als Fresko im Vatikan zu besichtigen.

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Nicht erst durch die Pandemie wurde schlagartig klar: Philosophen drängen in die Buchregale. Sie machen der von Digitalität und Klimakrise heimgesuchten Gesellschaft Angebote, ihren Zustand zu überdenken. Doch um in Bestsellerlisten einzusteigen, müssen die Erben Platons und Kants ihr Erscheinungsbild optimieren. Die Frage an Richard David Precht und Co lautet: Wie denkt man öffentlich – damit auch alle mitbekommen, dass man denkt? Versuch einer kleinen Typenlehre.

DER BRANDMELDER

Ein Sachverständiger für Epochenumbrüche

Den philosophischen Brandmelder treibt die Sorge um, die Gesellschaft – für die er spricht – vermöchte mit ihrer eigenen Entwicklung kaum Schritt zu halten. Bei Normalbürgern diagnostiziert er akut verkrustetes Denken. Öffentliche Denker wie der Solinger TV-Star Richard David Precht (55) verkörpern seit rund zehn Jahren das Konzept einer Philosophie zum Anfassen. Auf ZDF interviewt der Autor von leichtgängigen Moralschmökern wie Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? prominente Gesprächspartner "aus Politik und Gesellschaft".

Mit den Propheten des Alten Testaments teilt der Brandmelder (im Falle Prechts) nicht nur den Hang zu wucherndem Haupthaar, sondern auch die Fähigkeit zur Zukunftsschau. Das exponentielle Wachstum der Gegenwartsprobleme begreift er als Chance, den "Epochenumbruch" (die digitale Revolution, den Transhumanismus, die ökologische Wende) in gemeinsamer Kraftanstrengung zu meistern.

Er tut Gutes, indem der die Nachlässigkeit all jener zur Anzeige bringt, die moralphilosophisch schlechter gestellt sind als er. Philosophische Brandmelder sind Mahner. Die Leser ihrer Erbauungsschriften behandeln sie als Bahnwärter: Indem sie von ihnen verlangen, die "Weichen richtig zu stellen", erhalten öffentliche Philosophen die Fiktion am Leben, unsere Gemeinwesen wären Reisegesellschaften, deren Mitglieder sich als Zugbegleiter betätigen. Ruhigere Brandmelder wie der 3sat-Denker Gert Scobel (61) arbeiten an einer Art Abklärung brennender Gegenwartsfragen. Fortschritt? Ist jederzeit machbar, Herr Nachbar!

Richard David Precht.
Foto: EPA / Wittek

ABKLÄRER

Die Lehrmeister der Genügsamkeit

Köpfe seines Schlages rechnen von vornherein mit den Unzulänglichkeiten der Gattung Homo sapiens. Der Abklärer nimmt Mängel zum Anlass, dem Menschen seinen marginalen Platz im Universum anzuweisen. Allesbedenker wie Peter Sloterdijk (73) mahnen ruhiges Blut an. Sie verfügen über "Insider"-Wissen, das sie der Allgemeinheit unter Zuhilfenahme vieler Fremdwörter zur Verfügung stellen.

Die freundlichere Variante des Abklärers verkörperte einst der "Transzendental-Belletrist" Odo Marquard (1928–2015). Die Unverfügbarkeit alter Sinnressourcen versuchte er zu kompensieren. Anstatt dass er hochfliegende Illusionen hegte, empfahl Marquard, sich mit Routinen des Alltags zu begnügen. Slogans wie "Abschied vom Prinzipiellen" helfen mit bei der Veranschaulichung von Verlusterfahrungen. Marquards Erbe verwalten heute Abklärer wie der Grazer Philosoph Peter Strasser.

Peter Sloterdijk.
Foto: APA / Schlager

LINKSÜBERHOLER

Die Traditionspfleger mit Wut im Bauch

Der Linksüberholer hält die Fiktion einer Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse engelsgeduldig aufrecht. Aus den Regalen der Buchhandelsketten sind seine hohnvollen Schriften verschwunden. Man findet sie dafür in Gewerkschaftsbuchhandlungen wieder oder abgedruckt in marxistischen Zentralorganen wie Konkret.

An der Prosa der Kritischen Theorie geschult, beharren Autoren wie Sahra Wagenknecht oder hierzulande Richard Schuberth auf ihrem Standpunkt: dem Kernstück linker Analyse. Unsere Gesellschaft stehe im Bann eines letztlich unaufgelösten Verblendungszusammenhangs. Dem Grundwiderspruch, wonach ein paar wenige sich das gesellschaftlich erarbeitete Produkt aller aneignen, hätten sich die übrigen Konflikte unterzuordnen. Die lichterloh brennende Fackel der Zeitgenossenschaft ist in die Fäuste ökologischer, feministischer oder auch postkolonialer Autoren hinübergewechselt.

Sahra Wagenknecht.
Foto: EPA / OMER MESSINGER

SOZIALTECHNIKER

Die Schutzbeauftragten in Moralfragen

Sozialtechniker sorgen für die Verbreitung eines "philosophisch informierten Menschenbildes". Wer nur philosophisch denkt, ohne sein Wissen bereitwillig an benachbarte Disziplinen (Technik, Ökonomie) weiterzureichen, der verrät die Aufklärung. Er unterwirft sich Modediktaten und verschleudert das moralische Erbe. Philosophiestars wie der Bonner "Realist" Markus Gabriel (40) postulieren die "Wertekrise" der liberalen Demokratie. Gleichzeitig empfehlen sie sich selbst als Schutzbeauftragte, um unser Denken vor Verflachung zu bewahren.

Anstatt für materielle Umverteilung plädieren sie für "moralischen Fortschritt" (so ein Gabriel-Buchtitel). Sie stellen sich gegen "Erosionen" aller Art, vornehmlich einen verantwortungsethischen Leistungsabfall in der Gesellschaft. Telegene Denker wie Gabriels Kollegin Svenja Flaßpöhler bearbeiten fernsehgerecht Missstände. Ihre Arbeitshypothese ist die Aufhebung impliziter Denkverbote: Nicht nur die Dilemmata von Freitodhilfe und Schuld sollen "unvoreingenommen" diskutiert werden. Flaßpöhler duldet auch im Umgang mit MeToo keinerlei Apriori: Die ins Passiv gesetzte Frau reagiere nur erst recht wieder auf die vorausgesetzte Allmacht des Phallus.

Rührige Sozialtechniker gehören ebenso gut in die Rubrik der Abklärer. Von populärphilosophischem Ingenium lässt sich hingegen sprechen, wenn jemand Merkmale aller genannten Kategorien in sich vereinigt. Vielleicht erfüllt sogar der Sozialphilosoph Jürgen Habermas (91) alle Erfordernisse. Sein Pech: Seine vor Leder sprühende Prosa ist für philosophische Laufkunden unlesbar. (Ronald Pohl, 24.10.2020)

Svenja Flaßpöhler.
Foto: JOHANNA RUEBEL