Atomare Wasserstoffemission eines Ausschnitts aus der THOR-Durchmusterung (oben) und zugehörige fadenförmige Strukturen um das Magdalena-Filament (unten).
Foto: J. D. Soler et al

Als einfachstes und zugleich häufigstes chemisches Element ist Wasserstoff der wichtigste Rohstoff zur Bildung neuer Sterne. Aber wie bilden sich aus dieser weit verteilten Ressource jene Wolken aus Wasserstoffgas, aus deren punktueller Verdichtung letztlich ein neuer Stern entsteht? Auf der Suche nach der Antwort haben Forscher des Max-Planck-Instituts für Astronomie (MPIA) neue Einblicke in die Geschichte unserer Galaxie gewonnen.

Exakte Wasserstoff-Karte

Ein Team um Juan Diego Soler vom MPIA verarbeitete Daten der sogenannten THOR-Durchmusterung ("The HI/OH/recombination line survey"), die aus Beobachtungen mit einem Radiointerferometer in New Mexico stammen. Die Untersuchung ermöglichte die Erstellung von Karten der Gasverteilung in der inneren Region der Milchstraße mit der bisher höchsten räumlichen Auflösung.

"Wir haben die berühmte Spektrallinie des Wasserstoffs bei einer Wellenlänge von 21 Zentimetern verwendet", erklärt Yuan Wang, der für die Verarbeitung der Daten verantwortlich war. "Diese Daten liefern gleichzeitig die Gasgeschwindigkeit in der Beobachtungsrichtung. Kombiniert mit einem Modell, das beschreibt, wie sich das Gas in der Milchstraßenscheibe um ihr Zentrum dreht, können wir sogar Distanzen ableiten", sagt Wang.

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Die riesige Maggie

Mithilfe eines Algorithmus entdeckten die Forscher ein ausgedehntes und komplexes Netzwerk von Filamenten aus Wasserstoff in unserer Galaxie. Die meisten dieser Fäden verlaufen parallel zur Scheibe der Milchstraße, einschließlich einer 3.000 Lichtjahre langen Wasserstoff-Spur, die Soler zu Ehren des längsten Flusses in Kolumbien, seinem Geburtsland, Magdalena bzw. Maggie nannte.

"Maggie könnte das größte bekannte zusammenhängende Objekt in der Milchstraße sein. In den letzten Jahren haben Astronomen viele molekulare Filamente untersucht, aber Maggie scheint rein atomar zu sein. Aufgrund ihrer günstigen Position in der Milchstraße konnten wir sie ausfindig machen", sagt Jonas Syed aus dem THOR-Team.

Spuren einstiger Supernovae

Es war jedoch eine Ansammlung von vertikalen Filamenten, die die besondere Aufmerksamkeit der Forscher auf sich zog. "Wie bei dem sich drehenden Pizzateig erwarteten wir, dass die meisten Filamente parallel zur Ebene liegen und durch die Rotation gedehnt werden. Aber als wir viele vertikale Filamente um Regionen fanden, die für ihre hohe Sternentstehungsaktivität bekannt sind, wussten wir, dass wir auf der richtigen Spur waren. Irgendein Prozess muss Material von der galaktischen Ebene weggeblasen haben", sagt Soler.

In der Vergangenheit haben Astronomen Beobachtungen des atomaren Wasserstoffs genutzt, um die Hüllen um Supernova-Explosionen zu identifizieren, die bis zu ein paar Millionen Jahre alt sind. Die Schockwellen dieser Explosionen führen dazu, dass sich das diffuse und allgegenwärtige Wasserstoffgas in dichteren Wolken anhäuft, von denen die Wissenschafter annehmen, dass sie die ersten Schritte im Prozess der Sternentstehung sind. Doch dieser Fall ist anders.

Da die meisten der vertikalen Fäden in Regionen mit einer langen Geschichte von Sternentstehung konzentriert erscheinen, in denen mehrere Generationen von Sternen und Supernova-Explosionen ihre Umgebung geformt haben, brachten die Forscher sie mit weiter in der Vergangenheit liegenden Ereignissen in Verbindung. Laut Soler handelt es sich höchstwahrscheinlich um die Überreste von Hüllen um einstige Supernovae, die aufplatzten, als sie den Rand der galaktischen Scheibe erreichten, sich über Millionen von Jahren ansammelten und dank der Magnetfelder zusammengehalten wurden.

Astronomische Archäologie

Der über die Milchstraße verteilte Wasserstoff enthält also gleichsam einen Abdruck historischer Prozesse, die durch die Rotation der galaktischen Scheibe und durch Einflüsse von alten Supernova-Explosionen hervorgerufen wurden. Soler zieht zu der Untersuchung einen Vergleich mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen: "Archäologen restaurieren Zivilisationen aus den Ruinen von Städten. Paläontologen setzen alte Ökosysteme aus Dinosaurierknochen zusammen. Wir rekonstruieren die Geschichte der Milchstraße anhand der Wolken aus atomarem Wasserstoffgas." (red, 21. 10. 2020)