Im Zuge ihrer Diplomarbeit und des Forschungsprojekts "Wohnen auf Abruf" beschäftigte sich die Stadtforscherin Carina Sacher mit dem internationalen Trend, Obdachlose in billigen Hotels unterzubringen. Im Frühjahr 2020 editierte sie "Willkommen im Hotel! Echo einer Krise" als Schwerpunkt von "Derive", der Zeitschrift für Stadtforschung.

STANDARD: Sie haben sich mit dem Wohnen im Hotel als Notlösung beschäftigt. Ist das ein weltweites Phänomen?

Carina Sacher: Die Hôtels meublés in Frankreich oder die Single-Room-Occupancies in den USA und in Kanada sind historisch gewachsen und waren früher niederschwellige Ankunftsorte für Menschen, die in der Stadt Fuß fassen wollten. Sobald sie Arbeit gefunden hatten, zogen sie in andere Wohnformen. Heute wird ein Großteil dieser Billighotels in Frankreich von den staatlich beauftragten Sozialorganisationen genutzt, um Wohnungslose und asylsuchende Familien unterzubringen. Weil die zentral gelegenen Hotels ausgelastet sind, werden auch gering ausgelastete Häuser von Hotelketten an der Peripherie herangezogen, in denen gleichzeitig Touristen übernachten. In Irland ist das Phänomen neu. Das Land wurde durch die Finanzkrise stark getroffen, und die Zahl der Wohnungslosen steigt enorm – zwischen 2014 und 2019 um 350 Prozent. Allein in Dublin sind rund 1300 Familien wohnungslos, zwei Drittel davon leben vorübergehend in Hotels und Bed-and-Breakfast-Unterkünften.

In Paris gibt es besonders viel Nachfrage nach Hotelzimmern für wohnungslose Menschen.
Foto: Imago

STANDARD: Was bedeutet es für die Menschen, wenn sie längere Zeit in Hotelzimmern leben?

Sacher: Die Hotelzimmer haben im Durchschnitt 14 Quadratmeter. Es ist beengt, auch wenn eine mehrköpfige Familie auf mehrere Zimmer aufgeteilt wird. Es gibt keine Kochmöglichkeit im Zimmer, sondern maximal gemeinschaftlich genutzte Kochgelegenheiten im Hotel. In den Billighotels gibt es im Zimmer nur ein Waschbecken, keine Toilette und kein Badezimmer. Die Sanitäranlagen müssen von mehreren Bewohnern gemeinschaftlich genutzt werden. Wer lange unter solchen Bedingungen wohnt, leidet unter Bewegungsmangel, Stress und schlechter Ernährung. Wenn die Hotels an der Peripherie liegen oder in einem anderen Stadtteil als dem bisher bewohnten, müssen weite Wege in die Schule oder in die Arbeit in Kauf genommen werden, die bisherigen sozialen Kontakte reißen ab. Leben im Transit führt auf allen Ebenen zu instabilen Lebensverhältnissen und hat Auswirkungen auf Gesundheit, Arbeit, Bildung und Chancen.

STANDARD: Warum greifen die Stadt oder der Staat zu solchen Lösungen?

Sacher: Weil die bestehenden Notunterkünfte überlastet sind und Hotels rasch zur Verfügung stehen. Aber es entstehen dadurch hohe Ausgaben. Frankreich zahlte im Jahr 2018 für Hotelzimmer für Wohnungslose 225 Millionen Euro. Seit 2005 ist in der Agglomeration Paris die Nachfrage nach Hotelübernachtungen seitens des Staates um das 16-Fache gestiegen. Von den 40.000 Menschen, die in der Agglomeration Paris in Hotels wohnen, sind die Hälfte Kinder. Irland gibt mehr als 50 Millionen Euro für Bed and Breakfast und Hotelzimmer für Wohnungslose aus.

STANDARD: Sind die Hotels eine sinnvolle Lösung für das Wohnungsproblem?

Sacher: Es ist problematisch, dass öffentliche Gelder in den privaten Hotelsektor fließen und temporäres Wohnen dadurch forciert wird. Diese Notunterkünfte werden teilweise permanent, weil leistbarer Wohnraum fehlt und die Wartelisten für Sozialwohnungen zu lang sind. Eine bessere Lösung wäre das "Housing first"-Modell, das z. B. in Wien verstärkt umgesetzt wird. Das bedeutet, jemandem, der wohnungslos wird, rasch eine Wohnung zur Verfügung zu stellen. Dann kann die Person auch leichter wieder Arbeit finden. Die Umsetzung ist allerdings an das verfügbare Angebot leistbarer Mieten am Wohnungsmarkt gekoppelt.

STANDARD: Während wohnungslos gewordene Menschen in nichtausgelasteten Hotels untergebracht werden, werden Wohnungen über Plattformen vermietet. Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen Entwicklungen?

Sacher: Wohnungen, die punktuell von Touristen genutzt werden, stehen dazwischen oft lange leer. Der Vermieter kann mit Kurzzeitvermietungen mehr Geld machen. Dauermietern stehen diese Wohnungen nicht mehr zur Verfügung. Gleichzeitig verlieren die Hotels Einnahmen. Die betroffenen Städte haben das Problem erkannt und müssen nun auf Kurzzeitvermietungen reagieren, weil so leistbarer Wohnraum verlorengeht.

STANDARD: Sind Hotels als Notunterkunft ein Zeichen dafür, dass Wohnen in Städten immer prekärer und immer weniger leistbar wird?

Sacher: Wohnungen sind leider ein sicheres Anlageprodukt für Kapital, dadurch steigen international und auch in Österreich die Mieten und Immobilienpreise stärker als der Lohn. Gleichzeitig werden die Arbeitsverhältnisse flexibilisiert und prekarisiert. Man sieht die Tendenz, dass Wohnen zusehends auch für Familien mit Kindern aus der unteren Mittelschicht nicht mehr leistbar ist. Die Nutzung von Hotels oder Motels als Notlösung, ob staatlich oder eigenverantwortlich, ist sicherlich ein Zeichen dafür, dass es eine Wohnungsnot gibt.

"Allein in Dublin sind 1.300 Familien wohnungslos, zwei Drittel leben in Hotels", sagt Carina Sacher, die in Klagenfurt lehrt.
Foto: privat

STANDARD: Sollten sich die Städte mehr um einen sozialen Wohnungsmarkt kümmern?

Sacher: Es ist wichtig, dass auf staatlicher und städtischer Ebene der Wohnungsmarkt reguliert wird. Die Stadt Wien ist weltweit bekannt für ihren sozialen Wohnbau, der ein wichtiger Hebel für die Regulierung der Mietpreise ist. Allerdings finden Gruppen der Gesellschaft, wie z. B. Asylwerber oder Zuwanderer, weder auf dem freien Markt mit enorm steigenden Preisen noch auf dem sozialen Wohnungsmarkt mit seinen Zugangskriterien – zum Beispiel dass man seit mindestens zwei Jahren in Wien hauptgemeldet sein muss – leistbaren Wohnraum.

STANDARD: Wäre es notwendig, auch die Preise am freien Wohnungsmarkt zu regulieren?

Sacher: Wohnen als Menschenrecht muss ein zentrales Element der Wohnpolitik sein, und auch der Neubau muss einen gedeckelten Mietzins haben. Nur wenn wir in allen Bereichen die Hebel ansetzen, können wir leistbares Wohnen ermöglichen. Wir sollten uns auch die Frage stellen, ob nicht zuerst leerstehender Wohnraum oder ungenutzte Büroflächen verfügbar gemacht werden sollten, bevor wir für Neubauten Flächen versiegeln und Ressourcen verbrauchen. (Sonja Bettel, 27.10.2020)