Piotr Cywiński will der von einem nigerianischen Scharia-Gericht verhängten Haftstrafe gegen einen 13-Jährigen nicht tatenlos zusehen.

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Piotr Cywiński ist alles andere als ein Hitzkopf. Der promovierte Historiker ist seit 14 Jahren Direktor der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau und ein überzeugter Vertreter des Dialogs zwischen den Religionen. Als der 48-jährige Pole jedoch kürzlich von einem Gerichtsurteil aus dem fernen westafrikanischen Staat Nigeria vernahm, war es um seine Contenance geschehen: "Bei einem so schändlichen Urteil kann man nicht gleichgültig bleiben", wetterte er.

Der Grund seiner Empörung: In dem nordnigerianischen Bundesstaat Kano war ein 13-jähriger Junge wegen "Gotteslästerung" von einem Scharia-Gericht zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Der Bursch soll im Streit mit einem Freund unflätig über den Allmächtigen geäußert haben – was Omar Farouq genau gesagt hat, wurde nicht mitgeteilt.

Jedenfalls rannte der Freund zu seinen Eltern, die wiederum zu Kanos Scharia-Richter rannten: In zwölf der 36 Bundesstaaten des westafrikanischen Riesenstaates haben islamische Gerichte nicht nur in geistlichen Angelegenheiten etwas zu sagen. Auch wer wegen Diebstahls, Ehebruchs oder gleichgeschlechtlicher Liebe erwischt wird, kann – so er denn Muslim ist – von einem Muslim vor die Scharia-Richter gezogen werden. Und die zeigten im Fall Omar Farouqs offensichtlich keine Gnade.

120 mal ein Monat Ersatzhaft

Als Piotr Cywiński der Fall zu Ohren kam, setzte er einen Brief an "Seine Exzellenz", den nigerianischen Präsidenten Muhammadu Buhari, auf. "Als Direktor der Gedenkstätte eines Vernichtungslagers, in dem auch Kinder eingesperrt und ermordet wurden", könne er angesichts dieses Vorfalls nicht schweigen, heißt es in dem Schreiben: "Was auch immer der Junge gesagt hat, allein seines Alters wegen kann man ihn nicht zur vollen Verantwortung ziehen." Dem Bub werde mit seiner Haftstrafe die Jugend genommen, fährt der Direktor fort: "Er wird körperlich, emotional und in seiner Ausbildung für immer gezeichnet sein."

Um das zu verhindern, bietet Cywiński dem Staatschef einen Deal an: Er werde einen Monat der Haftstrafe des Jungen übernehmen und habe schon 119 weitere Persönlichkeiten gefunden, die es ihm gleichtun würden. "So ist der Preis für das Vergehen abgegolten – und wir haben das Schlimmste verhindert."

Reagiert hat der Präsident bislang noch nicht. Auch wenn es ihm nicht ansteht, in die Mühlen der Gerichtsbarkeit einzugreifen: Er hat die Macht, den Jungen zu begnadigen. Bis zu dieser Entscheidung bleibt Buhari allerdings noch Zeit: Denn zunächst muss der Rechtsweg bis zum Ende abgeschritten sein. Farouqs Anwalt beantragte bereits eine Revision des Urteils: Diese Verhandlung könne angesichts der weltweiten Aufmerksamkeit, die das Urteil ausgelöst hat, zu einem ganz anderen Schluss kommen, heißt es in der Hauptstadt Abuja. Schließlich wurden bereits mehrere Aufsehen erregende Urteile – wie die Steinigung einer Ehebrecherin oder das Todesurteil für einen Homosexuellen – von der zweiten Instanz stillschweigend kassiert. (Johannes Dieterich, 27.9.2020)