Vergewaltigungsprozess gegen drei junge Afghanen im Jänner 2017: Keine andere Gruppe ist unter den Tatverdächtigen derart überrepräsentiert.

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Der Täter ließ sich von potenziellen Zeugen nicht stören. Entschlossen zerrte der 20-Jährige einen halb so alten Buben in eine Klokabine, um sich an ihm zu vergehen. Hinterher kühlte er sich bei Sprüngen vom Dreimeterbrett ab, bis ihn die Polizei abführte. Er sei seinen "Gelüsten nachgegangen", zitierte ihn das Einvernahmeprotokoll: Schließlich habe er "seit vier Monaten keinen Sex mehr gehabt".

Die Vergewaltigung im Wiener Theresienbad im Dezember 2015 war ein besonders schockierender, aber nicht der einzige einschlägige Fall, der in jenen Monaten Schlagzeilen machte. Von Griffen zwischen die Beine, "Sexattacken" bei Planschbecken und Männerbesuchen in Damenduschen war zu lesen, von Burschen, die Frauen gezielt umstellten und begrapschten. Auf der Anklagebank saß stets dieselbe Gruppe: Asylwerber.

Heute, fünf Jahre nach der Flüchtlingswelle, erregen derartige Berichte weit seltener Aufsehen. Hat sich das Problem verflüchtigt? Griff Abstumpfung um sich? Oder haben sensationslüsterne Medien von Beginn an Einzelfälle zu einem vermeintlichen Massenphänomen aufgeblasen?

Wer bei Jonni Brem nachfragt, muss die bequemste Erklärung ad acta legen. Er meine nicht, dass da etwas hochgespielt wurde, sagt der Leiter der Wiener Männerberatung. Im Gegenteil: "Ich habe viele Fälle erlebt, die in der Öffentlichkeit untergingen." In Gefängnissen, bei Prozessen, in Kooperation mit der Polizei tauchte Brem in Geschichten junger Asylwerber ein, die eben ins Land gekommen waren – und registrierte einen "Schwung" an sexuellen Übergriffen, den er schlicht "dramatisch" nennt.

Immer wieder hätten sich Burschen zusammengerottet, um – die berüchtigte Kölner Silvesternacht lässt grüßen – Frauen wahllos zu verfolgen, zu bedrohen und über sie herzufallen. Ein kollektiver Kulturschock sei da eruptiert, sagt der Psychotherapeut: "Die Reize der neuen Umgebung haben diese Menschen heillos überfordert."

Asylwerber überrepräsentiert

Brems Erfahrungen spiegeln sich in trockenen Tabellen der Kriminalstatistik wider, wie sie Birgitt Haller regelmäßig durchkämmt. Das Thema bereitet der Leiterin des Instituts für Konfliktforschung nicht eben Freude, schließlich wolle sie alles andere als eine neue Hysterie anstacheln. Doch an den Resultaten gebe es nun einmal nichts zu beschönigen, sagt Haller: "Die sexuelle Gewalt ist gestiegen – und Asylwerber sind unter den Tatverdächtigen massiv überrepräsentiert."

Von 688 auf 782 ist die Zahl der Anzeigen wegen Vergewaltigung im Jahr eins nach dem Flüchtlingssommer angeschwollen, vier Fünftel des Zuwachses sind auf Asylwerber zurückzuführen. Der Anteil der Gruppe an allen Tatverdächtigen dieses Delikts stieg 2016 von 5,7 auf 14,6 Prozent. Einen exakten Referenzwert gibt es nicht. Diverse Daten legen aber nahe, dass Asylwerber auch zum Höhepunkt nie viel mehr als ein Prozent der Gesamtbevölkerung ausgemacht haben.

Sicher, ein Tatverdacht bedeute noch keine Verurteilung, merkt Haller an, und Ausländer würden wohl rascher angezeigt als Einheimische. Doch mit Verzerrungen allein lasse sich das Ergebnis nicht erklären: "Dazu ist der Gap einfach zu groß."

Verrohung durch den Krieg

Der genauere Blick bleibt an einer speziellen Volksgruppe heften. 2016 kamen auf 45.259 Afghanen 64 Anzeigen wegen Vergewaltigung, 54 davon betrafen Asylwerber. Auf die annähernd so zahlreich vertretenen Syrer, die zweite große Flüchtlingsgruppe seit 2015, entfielen lediglich 17 Tatverdächtige, auf die viermal so zahlreichen Deutschen im Land nur elf. Das genaue Verhältnis schwankt über die Jahre, doch der Überhang ist geblieben. Im Vorjahr kamen die Afghanen auf 59 Anzeigen, die Syrer auf 18, die Deutschen auf 25.

So mancher Akteur habe seine Tat gar nicht als Vergewaltigung gesehen, liest Haller aus Gerichtsakten. Erklärungen dafür findet sie nicht nur in der Verrohung durch jahrzehntelangen Krieg samt traumatischen Fluchterlebnissen.

Männer aus "vormodernen Gesellschaften", wo Verständnis für die Gleichwertigkeit der Frauen nicht existiere, würden die hierzulande geltenden Codes immer wieder völlig missinterpretieren: "Ein Mädel in Hotpants kommt bei ihnen oft als Einladung an."

Lasterhafte T-Shirts

Die importierte rigide Sexualmoral, wie sie in Afghanistan flächendeckender als im vielfältigen Syrien vorherrsche, lasse allein die verhüllte Frau ehrbar erscheinen, sagt der Soziologe Kenan Güngör. Ein knappes T-Shirt werde mitunter bereits als Zeichen der Lasterhaftigkeit gewertet – und als Legitimation für Übergriffe.

Dazu geselle sich sexueller Frust, zumal vielfach junge Männer ins Land kommen, die weder eine Beziehung haben noch verheiratet sind. "Plötzlich glauben sie, Verführung an jeder Ecke zu sehen", so Güngör: "Wenn Sie unbändigen Hunger haben, und um Sie herum steht überall Essen, dann greifen Sie zu." Oft sei das, was begehrt wird, aber nicht erreichbar: "Und was ich nicht erreichen kann, degradiere ich unbewusst."

Wer dieses Moralverständnis abschütteln wolle, müsse sich das mühsam erarbeiten, sagt der Integrationsexperte. Die staatlichen Werte- und Orientierungskurse seien ein erster kluger Schritt, als zweiter sollte eine Ergänzung um Sexualpädagogik folgen. Große Stücke setzt Güngör aber auf das Engagement der Zivilgesellschaft, die das Weltbild der Männer ins Wanken bringe: "Da bemerkt so mancher, dass scheinbar ehrlose Frauen ziemlich viel helfen."

Ein Aufflackern

Doch wie schnell schleifen sich überkommene Wertvorstellungen ab? Die Vergewaltigungsstatistik, die ja nur die brutalste Form sexueller Übergriffe dokumentiert, bietet keine belastbare Antwort. Zwar ist die Quote der tatverdächtigen Asylwerber seit 2016 auf 8,8 Prozent im Vorjahr gesunken, während Zahl und Anteil der Inländer zunahmen – aber geschrumpft ist eben auch die Masse der Asylsuchenden insgesamt.

Naturgemäß handelt es sich dabei um Menschen, die meist eher erst kurz im Land sind. Wie sich das Verhalten mit der Dauer des Aufenthalts ändert, lässt sich daraus kaum ablesen.

Dafür macht Männerberater Brem einen Trend aus. Er habe damit gerechnet, dass der im Herbst 2015 losgetretene Schwall an Gewalt ihn und seine Mitstreiter über Jahre auf Trab halten werde, "doch letztlich war das eher ein Aufflackern".

Viele der damals eingereisten jungen Männer, mit denen Brem nun etwa in Arbeitslosenprogrammen Kontakt hat, seien diesbezüglich kein bisschen mehr auffällig: "Die flippen nicht aus, wenn sie nackte Haut sehen." Für einen Schlüssel hält der Präventionsarbeiter die entspannte Unterbringung in kleinen Einheiten, wie es sie in Dörfern gibt. Große, überfüllte Lager stachelten nur die Aggression an.

Mit halbstarken Gruppen reden

Eine fallende Tendenz zeichnet sich auch an einem vielbeschwörten Hotspot ab. Spätestens seit der Vergewaltigung des Buben im Dezember 2015 galten Bäder als Zentrum der Übergriffe. Zwar habe sich schon damals manch angebliche Belästigung als unabsichtliche Berührung entpuppt, erzählt Wolfgang Jelinek, Personalvertreter in den Wiener Bädern.

Doch immerhin hatten Aggressionen, auch gegen Bademeister, ein solches Ausmaß angenommen, dass in der Kollegenschaft der Ruf nach Securitypersonal ertönte.

Weil martialische Sheriffs wohl friedliche Gäste verschreckt hätten, ließen sich Badewaschln schließlich in Sachen Deeskalation ausbilden. Diese "First Responder" machen ihre Runden und reden– wie es Jelinek ausdrückt – "mit den halbstarken Gruppen", ehe Spannungen eskalieren.

Vier Millionen Badegäste

Ob das genutzt hat? Die offizielle Statistik belegt zumindest nichts Gegenteiliges. Registrierten die Wiener Bäder im Rekordjahr 2017 noch 16 Übergriffe mit sexuellem Hintergrund bei insgesamt 58 strafrechtlich relevanten Vergehen, lautete das Verhältnis 2019 nur mehr sieben zu 32. Über die Täter sagen die Daten gar nichts aus.

Zweifellos gibt es da eine Dunkelziffer. Doch dass Frauen in Bädern "Freiwild" für Migranten seien, wie die feministische deutsche Zeitschrift Emma noch im Vorjahr unter anderem mit Verweis auf Wien konstatierte, lässt sich weder auf Nachfrage bei Jelinek noch bei Bädersprecher Martin Kotinsky erhärten.

Vier Millionen Besucher zählten die 22 Frei- und Hallenbäder in normalen Jahren, rechnet Letzterer vor. Da deuteten die Fallzahlen nicht gerade auf wildes Treiben hin.

Als Bestien dargestellt

Güngör mahnt ebenfalls, die Dimensionen im Auge zu behalten. Bei allen negativen Statistiken: "Letztlich wird auch unter den Afghanen nur eine Minderheit auffällig. Und die Mehrheit leidet darunter, mitunter wie Bestien dargestellt zu werden." Er spreche nun nicht von Vergewaltigungen, fügt der Soziologe an: "Aber gibt es Fälle von Belästigungen, ist die Empörung bei Asylwerbern um ein Zehnfaches höher."

Auch Maria Rösslhumer sieht zweierlei Maß. Natürlich seien viele afghanische Männer anders sozialisiert als einheimische Geschlechtsgenossen, die sich bei allem Widerstreben mit der Gleichberechtigungsdebatte auseinandersetzen mussten, sagt die Geschäftsführerin der autonomen Frauenhäuser Österreichs.

Doch Frauen seien nicht erst seit dem Flüchtlingsandrang vor fünf Jahren alltäglich sexueller Gewalt ausgeliefert, nur habe sich davor kaum jemand dafür interessiert: "Es gibt keinen Grund, mit dem Zeigefinger auf die Asylwerber zu zeigen." (Gerald John, 20.9.2020)