Pianist Nikolai Lugansky reiste doch nach Wien

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Von einer "neuen Normalität" hat jemand in diesem Frühjahr recht vage gesprochen, doch nach einem abgespeckten Kultursommer fühlte es sich knapp nach Saisonbeginn im Wiener Konzerthaus beinahe so an, als wäre ausgerechnet das Musikleben fast wieder so wie immer. Wären da nicht die stark ausgedünnten Sitzreihen …

Nikolai Lugansky, der diesen Herbst ansonsten praktisch nur in seiner russischen Heimat auftritt und dort vor kurzem – statt wie geplant in Südtirol – sämtliche Beethoven-Sonaten eingespielt hat, saß da, als sei es schon wieder selbstverständlich zu reisen wie eh und je. "Normal" ist der Pianist selbst jedenfalls beileibe nicht, auch wenn seine zurückhaltende, ja introvertierte Art keinen Hauch spektakulär wirkt.

Spektakel des Könnens

Keine Geste und auch kein pianistischer Effekt verrät sein eigentlich spektakuläres Ausnahmekönnen, das sich so unspektakulär und leise in den Dienst der Sache stellt, dass man diese Ruhe leicht als Zurückhaltung verstehen könnte. Die "innigste Empfindung" in Beethovens A-Dur-Sonate op. 101 schien ebenso verinnerlicht wie der ausladende Marsch und die polternde Fuge – ungeheuer fein austariert bis zum letzten Detail, mit subtil ausgehörten, eigenständig geführten Linien.

Dies war bereits eine Art Vorgeschmack auf César Francks "Prélude, Chorale et Fugue" – bei Lugansky kein entgrenzter Klangrausch, sondern ein durchstrukturiertes Geflecht motivischer Beziehungen mit einem selten feinen Sinn für die vielschichtige Harmonik vom schlichten h-Moll bis zur Ballung zweier Dur-Akkorde im Tritonus-Abstand bei der Klimax knapp vor der fulminanten Apotheose des Schlusses.

Dieselbe innerlich glühende äußere Zurückhaltung zeigte der Pianist, der dem Publikum einiges an Konzentration abverlangt, weil er eben jeden Effekt beinahe ängstlich vermeidet, auch nach der Pause bei Chopin und Rachmaninoff – sowie bei vier Zugaben (!). Dankbarer, langer und unaufgeregter Applaus, auch das nicht ganz normal. (Daniel Ender, 4.9.2020)