Herrliches Bergidyll bei Kufstein im realen Jahr 2020.

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Bei Österreich im Jahre 2020 handelt es sich nicht etwa um den ersten heimischen Corona-Roman. Diese werden zweifellos noch ab 2021 auf uns niedergehen. Der "sozialpolitische Roman" stammt vielmehr aus dem Jahr 1893 und wurde vom Wiener Anwalt Josef von Neupauer verfasst. Über Neupauer ist im Wesentlichen wenig bekannt. Neben seinem Hauptwerk, der Österreich im Jahre 2020 begleitenden Abhandlung Der Kollektivismus und die soziale Monarchie, existiert nur ein Foto und die Gewissheit, dass er 1913 oder 1914 in Innsbruck verstarb.

Gewiss ist aber auch, dass Josef von Neupauer sich dabei unmittelbar auf zwei im Vorwort erwähnte US-amerikanische utopische Romane bezieht, die ihren Protagonisten Mr. Julian West Ende des 19. Jahrhunderst in einen hundertjährigen Schlaf fallen und im Jahr 2000 in Boston wiedererwachen lassen.

Erkundungstour zwischen Wien und Bregenz

Neupauer schickt dabei den nunmehrigen US-Historiker Julian West gemeinsam mit seinem Reisegefährten, dem Antikommunisten Mr. Forest, 20 Jahre später dank offizieller Einladung Österreichs also 2020 auf Erkundungstour durch Österreich. Man muss sich unser Heimatland 2020 als Teil eines europäischen Staatenbundes vorstellen, beziehungsweise auch als Teil eines gemeinsamen europäischen "Sanitätsbezirkes" mit strengen Gesundheitskontrollen bei der Einreise. Diverse Krankheiten und Pandemien werden so draußen gehalten.

Das weltpolitisch nur noch eine unwesentliche Rolle spielende England ist in diesem europäischen Staatenbund nicht dabei, dafür aber Russland. Russland befehligt das gemeinsame Militärbündnis zu Lande. Österreich regiert die Marine. Die Türkei wurde in einem nicht näher bezeichneten Krieg besiegt und steht unter europäischer Kuratel. Das ganze Mittelmeer ist als "Binnensee" eine Schutzzone, in die Schiffe aus Übersee nur eingelassen werden, wenn zuvor in Gibraltar die Besatzung gegen Europäer ausgetauscht wurde.

Der Kaiser als Grüßaugust

Zitat aus dem Roman: "Wir halten eine Gefahr, dass die Union in die Brüche gehen könne, wie weiland der deutsche Bund für ausgeschlossen, und es ist übrigens auch Vorsorge getroffen, dass das Unionsrecht sich zeitgemäß entwickeln kann. Wir hoffen, dass England bald gezwungen sein wird, der Union beizutreten, und für die allerdings noch ferne Zukunft können wir wohl annehmen, dass ganz Asien für das Kollektivprinzip wird gewonnen und dann Europa, Asien und Afrika, welche ja in Wirklichkeit nur einen Kontinent bilden, zu einem einzigen Staatenbunde vereinigt werden."

Österreich wird 2020 noch immer von einem Habsburger auf dem Thron regiert. Allerdings erfüllt der Monarch im Sinne eines vom Volk bestätigten Stellvertreters ohne besondere Kompetenzen reine Repräsentationsaufgaben. Immerhin strömen pro Jahr hunderttausende Touristen mit ihren Devisen ins übrigens rauchfreie und apfelbäckchenrote und kerngesunde Land. Die Fremden dürfen selbstverständlich pofeln. Utopie hin oder her: Alles für die Gäst’!

Ehrlich, ländlich, klassenlos

Das Land wird übrigens, die Touristen nicht weiter störend, von einer nicht zu böswilligen Bürokratie kommunistisch und planwirtschaftlich verwaltet. Man setzt auch dank konsequenter Umsiedlungs- und Zersiedlungspolitik auf eine "ehrliche" ländliche und klassenlose Lebensweise. Auch Jesus als Sozialreformer und die Bibelfestigkeit der Einheimischen (inklusiver strenger Sexualmoral) spielen eine große Rolle.

Die Städte und Prunkbauten wurden mit wenigen Ausnahmen geschleift. In Wien leben beispielsweise nur noch 3500 Menschen.

Giebelkreuz und Schnürlsamthut

Spätestens jetzt merkt man, dass in diesem Idyll etwas nicht nicht stimmen kann. Schließlich weiß der Österreicher des realen Jahres 2020, dass das Land unter dem Giebelkreuz mit sozialistischer Gleichmacherei und Aufhebung des Eigentums nur wenig am Schnürlsamthut hat. Das Romanösterreich im Jahre 2020 stammt, wie gesagt, aus dem Jahr 1893. Wien ist in dieser Utopie kein Chicago geworden. Der Leser kann sich also schmökernd wie auch während eines Spaziergangs in der wirklichen heutigen Welt davon überzeugen. Bloß das 1945 errichtete Denkmal des sinnlosen Goldes wird man in der Innenstadt ebensowenig finden wie wohl auch, anders als im Roman, niemand den Glykolskandalwein-Jahrgang 1985 als herausragend beurteilen wollen wird.

Dem Leser mag bei all der betulichen und bis in diverse Nebensatzkonstruktionen leicht bürgerlich-geblähten Sprache des ausgehenden 19. Jahrhunderts mitunter etwas schwer im Gemüt werden. Dank einer mit eingebauten, etwas schwülstigen Liebesgeschichte sowie einer dramatischen Rettung des habsburgischen Kronprinzen aus dem Bodensee bleibt man allerdings am Ball dieser kuriosen Wiederentdeckung. (Christian Schachinger, 1. 9. 2020)