Das Brandungsgeschehen lässt an Wiederholungszwänge denken – und droht unmittelbar Betroffenen mit Auslöschung: "Die große Welle vor Kanagawa" (1832), Holzschnitt des japanischen Künstlers Katsushika Hokusai.

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Mit Ausnahme von Wladimir Putins Tochter Katerina und ein paar ausgesuchten russischen Staatsbürgern blickt die Weltbevölkerung mit erheblichem Unwohlsein auf den Herbst. Ein neuerliches Hochkochen der Corona-Pandemie kann schon aus Gründen des Tourismus keineswegs ausgeschlossen werden. Doch während einige Staatsregierungen der möglichen neuerlichen Herausforderung durch das Virus mit viel Gottvertrauen begegnen, setzen andere – wie die unsrige – auf einen smarten Maßnahmenmix.

Der unsichtbare Babyelefant ist in eine Art Wachstumsphase eingetreten. Und um die Wiederkehr der Pandemie möglichst kindgerecht zu veranschaulichen, haben die Gesundheitsplaner der Bundesregierung ein Ampelsystem zusammengebastelt. Der Ausnahmezustand soll sich normal anfühlen. Das neuerliche Schrillen der Alarmglocken verkommt zur Geräuschkulisse, heruntergedimmt auf Diskurslautstärke. Die Wiederkehr der Seuche wird, schon um ihr den Schrecken zu nehmen, fix im Alltagsleben verankert.

Dabei schienen sogenannte "zweite Wellen" sehr wohl dazu angetan, Zäsuren zu setzen, den Gang der Dinge umzuwälzen. Die Wiederkehr oder "Wiederkunft" bezieht sich von jeher auf messianische Figuren, Erlöser göttlichen Ursprungs. In ihrem Namen wird vollendet, was im göttlichen Heilsplan zur Vervollkommnung der Welt vorgesehen ist. Mit dem zweiten, finalen Auftritt Jesu soll nach Auffassung vieler Christen ein Gericht verbunden werden, das die "Gerechten" von den "Ungerechten" trennt.

In niemandes Ermessen

Die Anbahnung einer solchen Wiederkehr steht nicht unbedingt in menschlichem Ermessen. Wie z. B. Walter Benjamin festgestellt hat, kann das Fortschreiten der Geschichte, mit Blick auf ihre Vollendung, von menschlicher Warte aus nicht abschließend gedacht werden. Kommt der Erlöser, dann aus heiterem Himmel. Wiederkehr und Wiederkunft sind von jeher Gedankenfiguren, die sich der Verfügung durch den Menschen entziehen.

Von widerstreitenden Empfindungen angekränkelt erscheint auch Friedrich Nietzsches 1881 empfangene Intuition, "die ewige Wiederkunft des Gleichen" bilde einen innersten Zusammenhang menschlicher Gegebenheiten. Als ethischer Grundsatz übersteigt die Anforderung, sich im Wiederholungsfalle jedes Mal gleich gut (oder noch besser) zu verhalten, jedes vertretbare Maß. Der dazugehörige Imperativ: Handle stets so, dass du bereit wärst, unendlich oft hintereinander auf exakt dieselbe Weise zu handeln!

Auch Sigmund Freuds Lehre vom Symptom, aufgefasst als Anzeichen einer Wiederkehr von schmerzlich Verdrängtem, bringt den Gedanken der Wiederkehr um das nicht nur für Covid-19 ausschlaggebende Element. Die "zweite Welle" soll Schluss machen mit dem Zwang zu lästiger Repetition. Schon Karl Marx hat schließlich mit Blick auf Hegel festgestellt, dass alle großen Personen und Tatsachen "sich sozusagen zweimal ereignen: das eine Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce."

Finale Gemetzel

Doch Literatur und Kulturindustrie sind voll von finalen Schlachten und Gemetzeln, die beim zweiten Mal vervollständigen, was ein tastender Beginn zu verderben übrig ließ. Schon das berüchtigte Nibelungenlied aus dem frühen 13. Jahrhundert steckt voller solcher "zweiten Wellen". Im Gewaltverkehr der Vorzeit wird mit der Auslöschung des Gegenübers die Unschuld vordem friedlicher Weltverhältnisse wiederhergestellt. Man muss nicht gleich an Corona denken, um den Untergang der Nibelungen auf Etzels Burg als immunologischen Abwehrkampf aufzufassen.

In immer neuen Wellen berennen die Gefolgsleute des Hunnenkönigs den Saal mit Gunter, Hagen und Co. Sogar angezündet wird den grimmigen Haudegen ihr letzter Rückzugsort. Um ihren quälenden Durst zu löschen, trinken die Recken das Blut aus den Wunden der Gefallenen: eine besondere Form der Nahversorgung. Die Nibelungen zeigen Initiative. Bis nach dem letzten Anbranden doch noch Schluss ist. Und die Gewalt nach dem Abhauen des letzten Hauptes endlich erlischt.

Nicht viel anders funktionieren Heldenerzählungen, die vom Opfertod handeln und das Einknicken vor einer überwältigenden Übermacht beschreiben. Mit dem Gespenst der Wiederkehr lässt sich aber, abseits von Opfermythen, auch wirkungsvoll Politik betreiben. In Rücksicht auf die drohende "zweite Welle" wird der pandemische Ausnahmezustand zur vorweggenommenen Gewohnheit. Im munteren Zusammenspiel von Zwängen, Lehren und Strafen verwirklicht sich ganz unmerklich ein Modell von Macht.

Diese zielt nicht so sehr darauf ab, uns alle drakonisch zu strafen; lieber noch pflanzt sie ihren Schutzbefohlenen Normen ein und appelliert an unser Gewissen. Disziplin erhält sich dann am wirkungsvollsten, wenn sie sich der Zustimmung der von ihr in die Pflicht Genommenen sicher weiß. Und ohne Disziplin ist gewiss auch keine zweite Corona-Welle zu überstehen. Es sei denn, Russlands Impfstoff löst schon bald alle immunologischen Probleme. (Ronald Pohl, 14.8.2020)