Champions League Ticker: Atalanta vs. PSG, 21 Uhr

"Wir sind bereit, Geschichte zu schreiben", sagte Neymar, der teuerste Fußballer der Welt. Freilich dachte der Brasilianer da an die nähere, nicht die nächste Zukunft, dachte an den 23. August, an dem in der Champions League finalisiert wird. Neymar will Paris Saint-Germain den ersten einschlägigen Titel besorgen, womit die Zores, die die Diva aus Mogi das Cruzes nahe São Paulo dem steinreichen französischem Serienmeister bisher bereitet hat, einerlei wären. Allerdings muss PSG das Finale erst erreichen, und heute Abend kann im Estádio da Luz zu Lissabon (21) nur eine Mannschaft Geschichte schreiben – Gegner Atalanta Bergamo.

Der Star ist die Mannschaft – Atalanta Bergamo gilt im Finalturnier der Champions League schon als Sieger der Herzen.
Foto: UEFA/Lazaro Dela Pena

La Dea, die Göttin, steht vor der Vollendung der schönsten und traurigsten Saison ihrer mehr als 100-jährigen Geschichte. Wobei ein Scheitern im Viertelfinale der Königsklasse des europäischen Klubfußballs die sportliche Bilanz nicht mehr verderben könnte. Als Dritte der Serie A haben sich die Lombarden zum vierten Mal in Serie für den Europacup qualifiziert, zum zweiten Mal für die Champions League. Coach Gian Piero Gasperini (62) formte eine Offensivmaschinerie, die mit 98 Toren nur knapp am Hunderter scheiterte. Gleich viele Treffer hatte zuletzt Juventus Turin in der Saison 1951/52 geschafft und also zwei Jahre nach Milans Allzeitrekord von 118 Saisontoren, der damals übrigens nur zu Rang zwei gereichte.

Ohne Superstars

Im Gegensatz zu Juve und Milan der 50er-Jahre kommt Atalanta aber ohne Superstars aus. Spieler wie der Kolumbianer Duván Zapata, dessen Landsmann Luis Muriel (beide 18 Tore), der Slowene Josip Ilicic (15), der Deutsche Robin Gosens und der Kroate Marian Pasalic (beide 9) passen zur Vereinsphilosophie, die sich 2010, nach dem wiederholten Abstieg und der Übernahme durch den Unternehmer Antonio Percassi, herausbildete.

Percassi, in der lombardischen Modebranche erfolgreich, spielte selbst für Atalanta und setzte ganz auf die Jugendarbeit. So auch auf seinen Sohn Luca (39), der es als Verteidiger sogar zu zwei Einsätze bei Chelsea gebracht hat, jetzt aber die Geschicke Atalantas für den Vater schupft. Der familiäre Fußballverstand führte 2016 zur Verpflichtung von Trainer Gasperini, der seit seiner Tätigkeit im Nachwuchs von Juventus Turin als großer Förderer junger Spieler gilt und das mit dem Auf- und Einbau von Talenten in schönster Regelmäßigkeit beweist.

Gian Piero Gasperini hat eine Hand für Talente.
Foto: EPA/MAGNI

Resultat dieser Arbeit sind nicht nur starke Platzierungen in der Serie, sondern ein für Italien sensationeller Transferüberschuss. In den vergangenen Jahren kamen mehr als 100 Millionen Euro in die Kassa. Ausgegeben wurde das Geld aber nicht für Stars, sondern für die Renovierung des bereits 2017 von der Stadt gekauften Stadio Atleti Azzurri d’Italia, heute Gewiss Stadion, das spätestens 2023 ein Schmuckkästchen sein soll.

Das Leid und die Freude

Höhe- und eigentlich auch Tiefpunkt des Märchens war das Achtelfinal-Hinspiel der Champions League gegen Valencia im Mailänder San-Siro-Stadion am 19. Februar. Mehr als 44.000 Bergamasker feierten ein triumphales 4:1 gegen die Spanier. Sie waren davor und danach in Bussen, Zügen oder auf Autobahn-Raststätten und Restaurants in engem Kontakt. Parallel zum Spiel in der Metropole hatte es in Bergamo zahlreichen Public-Viewing-Veranstaltungen in Bars und Restaurants mit Hunderten von Teilnehmern gegeben.

Genau zwei Wochen später nahm die Corona-Pandemie in der Region mit seiner hohen Dichte an internationalen Unternehmen so richtig Fahrt auf. Die Bilanz nach bald einem halben Jahr: mehr als 6000 Tote, also mehr als ein Drittel der Opfer, die bisher in der gesamten Lombardei beklagt wurden. Klubbesitzer Percassi wähnte sich zwischenzeitlich "wie in einem Weltkrieg. Wir erleben eine unglaubliche Tragödie, der eine ganze Generation zum Opfer gefallen ist." Seine Fußballer sieht er umso mehr gefordert: "Ich hoffe, dass Atalantas Leistungen unserem Volk Freude machen, das so traurige und schwierige Tage erlebt."

Vorteil Rhythmus

Die Chancen dafür gegen die milliardenschweren Franzosen stehen nur auf den ersten Blick schlecht. Tatsächlich gilt Atalanta nicht wenigen als Favorit, weil keine nationale Liga in diesem Sommer so lange wie die Serie A spielte. Die Italiener hörten erst vor zehn Tagen auf, sind im Rhythmus. Die Pariser von Coach Thomas Tuchel, bei denen Jungstar Kilian Mbappé kaum einsatzfähig sein wird, absolvierten ihr letztes Ligaspiel im März. Danach waren sie nur in nationalen Cupbewerben (erfolgreich) im Einsatz. (Sigi Lützow, 12.8.2020)