Der Hals von Tanystropheus ist ein bisschen so wie der Sternzerstörer am Beginn des ersten "Star Wars"-Films: Es kommt immer mehr und mehr und mehr davon ins Bild, er hört einfach nicht auf.
Illustration: Emma Finley-Jacob

So kann man sich irren: Als der Paläontologe Francesco Bassani im 19. Jahrhundert Fossilien des sechs Meter langen Urzeitreptils Tanystropheus fand, dachte er zunächst noch, er hätte einen Flugsaurier mit langem Schwanz entdeckt. Später wurde diese Vorstellung buchstäblich auf den Kopf gestellt: Was Bassani für den Schwanz gehalten hatte, war in Wirklichkeit der Hals des Tiers.

Und dieser Hals hatte es in sich: Er war länger als Rumpf und Schwanz zusammengenommen, eine der extremsten Proportionen im ganzen Tierreich. Trotzdem hatte Tanystropheus nicht mehr als 13 Halswirbel – diese waren nur wie bei einer Giraffe extrem verlängert. Wie das Tier vor 242 Millionen Jahren mit diesem aberwitzig langen Hals lebte, hat Forscher lange Zeit beschäftigt. Nun berichtet ein Team unter Leitung der Universität Zürich (UZH), dass es das Rätsel gelöst hat: Tanystropheus lebte im Wasser.

Die aus Fragmenten erstellte Rekonstruktion des Schädels von Tanystropheus.
Foto: Stephan Spiekman et al.

Die Gruppe um Stephan Spiekman nutzte das sogenannte SRµCT-Verfahren ("synchrotron radiation micro-computed tomography"), eine extrem leistungsfähige Form der Computertomografie, um aus Schädelfragmenten die Lebensweise das Langhalssauriers herauszulesen. Die Ergebnisse wurden im Fachjournal "Current Biology" vorgestellt.

In der fast vollständigen 3D-Rekonstruktion, welche die Forscher mithilfe von Scans erstellten, zeigte sich, dass der Schädel von Tanystropheus mehrere deutliche Anpassungen an das Leben im Wasser aufwies. So befanden sich die Nasenlöcher an der Oberseite der Schnauze, ähnlich wie bei heutigen Krokodilen. Die Zähne wiederum waren lang und gebogen – Indiz für eine Anpassung zum Fangen von glitschiger Beute wie Fischen oder Kopffüßern.

Nicht ganz unbekannter Körperbau

Schon zuvor hatten viele Paläontologen in diese Richtung tendiert, immerhin wurden Tanystropheus-Fossilien in Schichten gefunden, die einstmals aquatische oder zumindest semiaquatische Lebensräume gewesen sein dürften. Außerdem weist Tanystropheus eine gewisse Ähnlichkeit zu Meeressauriern wie Elasmosaurus oder Albertonectes auf. Auch die hatten einen Hals, der alle Proportionen sprengte. Verwandt waren diese anatomischen Extremisten mit Tanystropheus allerdings nicht, sie lebten satte 160 Millionen Jahre nach ihm.

Anders als diese späteren Schlangenhalssaurier, deren Beine zu Flossen umgebildet waren, dürfte Tanystropheus auch kein besonders guter Schwimmer gewesen sein. Gliedmaßen und Schwanz wiesen keine sichtbaren hydrodynamischen Anpassungen auf, wie die Analyse der Fossilien ergab. "Wahrscheinlich jagte er, indem er langsam durchs trübe Wasser schwamm und sich seiner Beute heimlich näherte", sagt Studienerstautor Stephen Spiekman von der Uni Zürich. "Sein kleiner Kopf und der sehr lange Hals halfen ihm, möglichst lange verborgen zu bleiben."

Zwei Reihen langer, gebogener Zähne machten es dem Räuber leicht, glitschige Beute zu packen.
Illustration: Emma Finley-Jacob

Und noch etwas ergab die neue Untersuchung: Von einem Fundort an der schweizerisch-italienischen Grenze sind zwei Arten von Tanystropheus-Fossilien bekannt, eine kleine und eine große. Sie wurden bisher als Jungtiere und Erwachsene derselben Art betrachtet. Die aktuelle Studie widerlegt diese Interpretation nun aber. Denn der neu rekonstruierte Schädel, der von einem großen Exemplar stammt, unterscheidet sich deutlich von den bereits bekannten kleineren Schädeln – vor allem im Gebiss. Das spricht für unterschiedliche Ernährungsweisen und damit für unterschiedliche Arten.

Um festzustellen, ob die kleinen Fossilien tatsächlich von Jungtieren stammten, untersuchten die Forscher Querschnitte von Knochen der kleineren Tanystropheus-Art. Dabei stießen sie auf zahlreiche Wachstumsringe. "Aufgrund der Anzahl und Verteilung der Wachstumsringe schließen wir, dass es sich beim kleineren Typ nicht um junge, sondern um ausgewachsene Tiere handelte", sagt Spiekmans Kollege Torsten Scheyer. "Die kleinen Fossilien sind also eine separate, kleinere Art von Tanystropheus."

Unterschiedliche Meeresfrüchte-Menüs

Laut Spiekman sind aus dem gemeinsamen Vorfahren der beiden Arten unterschiedliche Entwicklungslinien entsprungen. So konnten die Tiere das Nahrungsangebot im Meer besser ausnutzen, ohne einander Konkurrenz zu machen: Die Kleinen erbeuteten Schalentiere wie etwa Krabben, während ihre großen Verwandten Fischen und Kopffüßern auflauerten.

Dass ihr Körper nicht optimal manövrierfähig war, glich der lange Hals aus. Er brachte das zähnestarrende Maul zum Ziel, während sich der Körper des Jägers noch in vermeintlich sicherem Abstand zu seiner Beute befand. (jdo, APA, 7.8.2020)