Es ist eine weitere tiefe Verwundung der libanesischen Hauptstadt – sowie der Bewohner Beiruts und des ganzen Landes. Ein Lager mit explosivem Material am Hafen, das sich in den Abendstunden des Dienstags entzündet: Die Schuldzuschreibungen der diversen Behörden haben am Tag danach begonnen.

Und inmitten aller möglichen Theorien muss man nüchtern feststellen, dass die Fahrlässigkeit, Unfähigkeit, Schlamperei, die zu dieser Katastrophe führten, im Libanon durchaus denkbar sind. Ein seit Jahren gelähmtes politisches System hat nicht nur die Wirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs gebracht, es kümmert sich auch nicht um Verwaltung und Wartung wichtiger Strukturen. Und so werden dann eben im Hafen von Beirut Feuerwerkskörper neben 2750 Tonnen Ammoniumnitrat gelagert, das vor sechs Jahren beschlagnahmt wurde.

Der zerstörte Hafen in Beirut.
Foto: AFP PHOTO/Satellite image ©2020 Maxar Technologies

Zum jetzigen Zeitpunkt können auch andere Szenarien – dass jemand die Lunte bewusst angezündet hat – nicht ausgeschlossen werden, aber das ist alles reine Spekulation. Dass sie angesichts der sich regional erhöhenden Spannungen, wie zuletzt zwischen der libanesischen Hisbollah und Israel, nicht ausbleibt, ist weiter nicht verwunderlich. Dazu trägt bei, dass, fünfzehn Jahre nach der Tat, soeben der internationale Prozess um den Anschlag gegen den mehrfachen libanesischen Ministerpräsidenten Rafiq Hariri in die Schlussrunde geht. Die Beschuldigten sind Hisbollah-Mitglieder.

Pseudodemokratie

Kein Land wurde stärker von großen Explosionskatastrophen geprägt als der Libanon. Sie werden stärker medial wahrgenommen als das langsame Sterben eines Landes, in dem die Menschen seit Monaten vor dem Abgrund stehen. Aus der einstigen "Schweiz des Nahen Ostens" – das ist allerdings wirklich Jahrzehnte her – wurde eine von Cliquen beherrschte Pseudodemokratie, in der sich alle regionalen Konflikte widerspiegeln. Und die libanesischen Stellvertreter der regionalen Mächte, allen voran die Hisbollah für den Iran, machen willig mit.

Die Neudefinition der sogenannten Konkordanz-Demokratie, in der alle Gruppen irgendwie an der Macht beteiligt werden und ein Stück vom Kuchen bekommen, hat 1989 den Libanon aus dem Bürgerkrieg geführt. Aber sie funktioniert nur, wenn auch die Regionalmächte es wollen. Deren Minimalkonsens zerbrach spätestens mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs im Nachbarland Syrien. Für die Last, die dem Libanon damals aufgebürdet wurde – sie reicht von der Aufnahme syrischer Flüchtlinge bis zu den Auswirkungen der neuen US-Sanktionen gegen Damaskus –, hat sich die internationale Gemeinschaft kaum interessiert.

Kurz keimte vorigen Herbst und Winter Hoffnung auf, als viele – besonders junge – Menschen im Protest gegen das versteinerte System auf die Straßen strömten. Das Ende Jänner gebildete "Technokratenkabinett" war schon wieder eine Mogelpackung, zustande gekommen durch das Feilschen Hisbollah-naher Gruppen um Posten und Pöstchen. Diese Regierung konnte bisher weder das internationale Vertrauen noch jenes der Libanesen und Libanesinnen wiederherstellen. Nun sind sie völlig am Boden und benötigen Hilfe, sofort. In der Folge braucht es eine große internationale Anstrengung, um den Libanon wieder auf die Beine zu bringen. Niemand kann Interesse an einem weiteren kollabierenden Staat im Nahen Osten haben. (Gudrun Harrer, 5.8.2020)