Weiterhin nicht einer Meinung: Der niederländische Premier Mark Rutte, Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron (von links nach rechts).

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Wer auf EU-Ebene für sein Land und für das gemeinsame Europa etwas erreichen will, der braucht als Premierminister oder Bundeskanzlerin vor allem eine robuste körperliche Verfassung, gutes Sitzfleisch und die Fähigkeit, mit sehr wenig Schlaf auszukommen. Diese Regel hat sich beim EU-Sondergipfel zum langfristigen EU-Budgetrahmen bis 2027 und zum Wiederaufbaufonds am Wochenende in Brüssel wieder einmal bewahrheitet.

Bereits seit Freitag verhandeln die 27 EU-Staats- und Regierungschefs. Erst am frühen Montagmorgen stand eine Einigung in Aussicht: Laut Diplomatenkreisen soll der Corona-Wiederaufbaufonds demnach 390 Milliarden Euro an Zuschüssen enthalten. Der Rest soll in Kreditform vergeben werden. Das Gesamtvolumen des Aufbaufonds soll nunmehr – wie ursprünglich von der EU-Kommission vorgeschlagen – 750 Milliarden Euro ausmachen, hieß es in Ratskreisen.

EU-Ratspräsident Charles Michel hat dem Plenum den neuen Vorschlag am Montag kurz vor 6 Uhr unterbreitet. Am Nachmittag – um 16 Uhr – sollen die Beratungen darüber wieder aufgenommen werden – am mittlerweile vierten Tag des EU-Gipfels. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) zeigte sich auf Twitter "sehr zufrieden" mit dem "heutigen Ergebnis".

Kritik an Kurz

Michel hatte die verhakten Verhandlungen kurz vor Mitternacht für eine Pause unterbrochen. Wie vom STANDARD zuvor berichtet, war es am Sonntagabend um ein "letztes Angebot" der "Sparsamen Vier" gegangen. Jener Gruppe aus Österreich, den Niederlanden, Schweden und Dänemark, die zu strenger Kontrolle bei Ausgaben von Finanzmitteln aufruft. Rabatte und Zuschüsse sollten diesem Vorschlag nach 50:50 auf je 350 Milliarden Euro geteilt werden, der Gesamtbetrag der Hilfen aus dem Wiederaufbaufonds solle demnach 700 Milliarden Euro betragen. Voraussetzung war nach Sicht der Gruppe auch, dass sich am Vorschlag zu den Rabatten – 287 Millionen für Österreich – nichts mehr ändere. Danach werde man sehen, ob der Gipfel abgebrochen oder ob auf Basis dieses "letzten Angebotes" weiterverhandelt werde.

Wie es in den Nachtstunden hieß, sollen sich Schweden und Dänemark kompromissbereit gezeigt haben. Nur Österreich und die Niederlande hätten noch auf der Maximalposition der "Sparsamen Vier" bestanden. Michel soll sie dann in einer kurzen Pause zu Beratungen zu sich bestellt haben, danach sei ein Kompromiss für Förderungen in der Höhe von 375 Milliarden Euro möglich erschienen.

Diesen habe aber der französische Staatspräsident Emmanuel Macron abgelehnt, der über 400 Milliarden an Förderungen wollte. Macron soll laut einem Bericht von "Politico" scharfe Kritik an Kanzler Kurz geübt haben, als dieser vorübergehend die Gespräche verlassen hatte: "Sehen Sie, ihm ist das alles egal! Er hört anderen nicht zu, hat eine schlechte Haltung. Er kümmert sich um die Presse – und basta." Zudem instrumentalisiere Kurz zusammen mit den Niederlanden das Thema Rechtsstaatlichkeit, um zu blockieren.

"Mission Impossible"

Michel hatte beim Abendessen mit einem verzweifelt wirkenden Appell versucht, das Scheitern zu verhindern. Der Belgier verwies auf seine zahlreichen bisherigen Kompromissangebote und Zugeständnisse. Die beispiellose Corona-Krise würde eine Einigung benötigen. Zum Schluss seines Beitrags sagte Michel laut Redetext: "Mein Wunsch ist, dass wir eine Einigung erzielen und dass die 'FT' ('Financial Times') und andere Zeitungen morgen titeln, dass die EU erfolgreich eine 'Mission Impossible' gemeistert hat."

Insgesamt geht es um die Verteilung von knapp 1.850 Milliarden Euro in den Jahren 2021 bis 2027, davon 1.074 Milliarden im regulären Haushalt, 750 Milliarden im Wiederaufbaufonds zur Unterstützung der Mitgliedsländer, die von den Folgen der Corona-Krise am härtesten betroffen sind. Die Speerspitze der Gruppe, alles kleine Nettozahlerländer, die zudem bisher einen EU-Beitragsrabatt bekommen, der ihnen ursprünglich nach dem Brexit gestrichen werden sollte, bildete der Niederländer Mark Rutte. Er trug – assistiert von Kurz, dem Schweden Stefan Löfven und der Dänin Mette Frederiksen – die härtesten Einwände vor. Rutte verlangte, dass beim Wiederaufbaufonds der Anteil der nicht rückzahlbaren EU-Zuschüsse statt 500 Milliarden Euro nicht mehr als 400 Milliarden betragen dürfte. Das lehnten wiederum die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und vor allem Macron ab, die den Plan von 500 Milliarden selbst vorgeschlagen hatten.

Rutte vs. Conte

Als zweiten Punkt mahnte Rutte ein, dass die Modalitäten der Mittelvergabe verschärft werden müssten – insbesondere, ob die Zuschussempfänger die Reformauflagen erfüllten. Der Niederländer geriet besonders stark in die Kritik, weil er sich als unnachgiebig präsentierte. Italiens Premier Giuseppe Conte schoss sich frontal auf ihn, aber auch generell auf "die Vier", ein.

Wie das EU-Portal "Politico" unter Berufung auf italienische Diplomaten berichtete, warnte Conte Rutte vor den Folgen seiner Blockade: "Du bist vielleicht ein Held in deiner Heimat für ein paar Tage, aber nach ein paar Wochen wirst du vor allen europäischen Bürgern dafür verantwortlich gemacht werden, dass du eine angemessene und effiziente europäische Antwort blockiert hast", sagte der italienische Diplomat unter Berufung auf Conte. Conte habe demnach auch erklärt, dass der Recovery Fund zwei- bis dreimal größer sein müsste, wenn die EU nicht umgehend handle.

Erfreuter Kurz

Ratschef Michel hatte seit Freitag versucht, den Widerstand durch Zugeständnisse zu lockern. Einerseits sollte das Verhältnis von Zuschüssen und Krediten beim Wiederaufbau verändert werden, wie Rutte es wollte. Gleichzeitig erhöhte er mehrfach die für fünf Staaten möglichen Beitragsrabatte – auch für Österreich.

Darüber zeigte sich Kurz hocherfreut. Ursprünglich seien nur 137 Millionen Euro pro Jahr als Rabatt vorgesehen gewesen, sagte er am Sonntag, das sei zunächst auf 237 Millionen und am Freitag auf 287 Millionen Euro erhöht worden. Am Ende könnten es sogar mehr als 300 Millionen Rabatt sein, glaubte Kurz.

Etwas ins Hintertreffen geriet die Debatte, wofür die Wiederaufbaugelder vor allem verwendet werden sollen – für Klimaschutz, Digitalsierung oder Reformen.

Sassoli droht mit Veto

Der Präsident des Europäischen Parlaments, David Sassoli, hat mit einem Veto der Volksvertretung gegen den billionenschweren Budgetdeal gedroht. Sassoli pochte am Montag in einer Aussendung unter anderem auf eine ausreichende Dotierung des Budgets, neue Eigenmittel, einen Rechtsstaats-Mechanismus sowie ein Ende der Budgetrabatte.

"Wenn diese Bedingungen nicht ausreichend erfüllt sind, wird das Europäische Parlament seine Zustimmung nicht erteilen", betonte der italienische Sozialdemokrat. "Das Europäische Parlament hat seine Prioritäten festgelegt und erwartet, dass sie erfüllt werden."

Sassoli zeigte sich angesichts der Verhandlungen des Wochenendes "besorgt" über einen möglichen Verlust der europäischen Solidarität und der Gemeinschaftsmethode in der Union. Zugleich rief er die Staats- und Regierungschefs zur Einigung auf. "Nach tagelangen Diskussionen erwarten die europäischen Bürgerinnen und Bürger eine Einigung, die diesem historischen Moment gerecht wird", so Sassoli. (Thomas Mayer aus Brüssel, red, 20.7.2020)

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