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Die Broadway-Bühnen sind noch mindestens bis Ende des Jahres zu, also gibt es den Blockbuster "Hamilton" neuerdings als Stream: hier Daveed Diggs als Thomas Jefferson.

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Hamilton rappt. Gut, würde mancher sagen, der diesen Satz liest: Eine Riesenüberraschung ist das nicht. Mode macht der mehrfache Formel-1-Weltmeister eh schon länger. Soll er halt auch rappen. (Unter uns: Das macht er auch.) Es geht bei dieser Feststellung aber nicht um Lewis Hamilton. Sondern um Alexander. Alexander Hamilton, Mitte der 1750er-Jahre als uneheliches Kind auf den Westindischen Inseln geboren, war einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika und deren erster Finanzminister. Er starb im Juli 1804 nach einem Duell mit einem politischen Rivalen. Lin-Manuel Miranda hat nun ein Musical über dessen bemerkenswertes Leben geschrieben.

Vier bemerkenswerte Dinge an Mirandas klingender, singender Geschichtsstunde – eigentlich sind es deren zweieinhalb – sind: Das Musical ist seit 2015 der Renner am Broadway, es wurde mit Tony Awards überschüttet, die meisten Darsteller der Gründerväter und auch der anderen handelnden Personen sind People of Colour, und es wird in einer Tour gerappt.

Dicke-Hose-Gangsta-Pose

Gerappt? In einem Musical? Wie soll das zusammengehen: dicke-Hose-Gangster-Pose mit flockig-überdrehtem Gute-Laune-Herumgehopse? Antwort: gut. Miranda (er hat neben der Musik auch das Buch und die Liedtexte geschrieben und spielt zum Drüberstreuen noch die Titelpartie) hat das mit einer souveränen Selbstverständlichkeit hinbekommen. Bis vor kurzem konnte man Hamilton nur am Broadway sehen, wenn man Tickets ergatterte. Aber weil im Weltgetriebe gerade der virale Wurm drin ist, haben die Bühnen dort bis Ende 2020 zu. Mindestens. Eine gute Idee also, die Aufzeichnung des Musicals aus dem Jahr 2016, die eigentlich erst 2021 in den Kinos gezeigt werden sollte, jetzt schon bei Disney+ verfügbar zu machen.

Was sieht man in der gefilmten Aufführung? Die Backsteinmauern eines Hinterhofs, garniert mit Holzgerüsten. Was hört man aus dem Orchestergraben? Synthetischen, schmalbrüstigen Streichersound und viel hartes Geknattere von der Drum-Sektion. Überraschenderweise alles nicht halb so bombastisch und glamourös wie erwartet.

Aber das Buch ist abwechslungsreich und hat Tempo, und die Darsteller sind exzellent. Da wäre etwa Leslie Odom Jr., der den Aaron Burr mit dem konzentrierten Charisma eines Jamie Foxx gibt (Burr ist der Freund Hamiltons, der sich zum Gegner entwickelt). Phillipa Soo berührt als Hamiltons Gattin Eliza dank der quellreinen Schlichtheit ihrer Darstellung. Und bei Jonathan Groffs King George III ist jeder Ton und jede Regung gottbegnadet.

Kritische Stimmen

Die Choreografie (Andy Blankenbuehler) ist solide, aber keine Revolution. Ein Genuss in fast jedem Augenblick der Aufführung ist die Personenführung von Regisseur Thomas Kail, der auch für die Videoaufnahmen verantwortlich zeichnet. Wie drei frühe Freunde Hamiltons miteinander scherzen und keppeln, wie die Gründerväter-Gang sich rappenderweise "cabinet battles" liefert – das ist einfach exzellent gemacht.

Ist das jetzt nur ein PR-Gag, oder ergibt es Sinn, dass in Hamilton People of Colour die Gründerväter mimen? Kritische Stimmen wie jene der Historikerin Lyra Monteiro monierten, dass dadurch suggeriert würde, die Geschichte der Gründung der Vereinigten Staaten sei eine Geschichte aller Amerikaner, welcher Hautfarbe auch immer. Was aber nicht zuträfe: "It’s still white history."

Man kann die Sache aber auch anders sehen: Genauso wie in der Musik von Hamilton pseudoharter Ghetto-Style Hip-Hop und softe Herzschmerzmelodeien miteinander schmusen, so verschmilzt auf der Ebene der Darsteller die (weiße) Gründungsgeschichte der Vereinigten Staaten mit der gemischtfarbigen Bevölkerung – und stärkt so die verbindenden Kräfte im Schmelztiegel USA.

Das ist gut so, denn Spaltpilze gibt es dort auf allen Ebenen mehr als genug. (Stefan Ender, 13.7.2020)