Hans Blumenberg hatte ein kriminell ausgefeiltes System markierter und querverweisender Karteikarten.

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Hans Blumenberg – der Thomas Pynchon der neueren deutschen Philosophie? Mit seiner Emeritierung 1985 wurde Blumenberg, der da schon länger einen ungewöhnlichen Lebensrhythmus gepflegt hatte – am späten Nachmittag zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück, las, schrieb und diktierte die Nacht hindurch bis in den frühen Morgen, schlief bis mittags, gab eine Vorlesung –, endgültig nur noch Wort, zog sich in Denkzimmer und Bibliothek zurück. Dieser randständige Riese der deutschsprachigen Philosophie des 20. Jahrhunderts war denkbesessen. Er schrieb dermaßen viel, dass die allerletzte Edition aus seinem Nachlass erst vor einigen Monaten erschien, also 24 Jahre nach seinem Tod am 28. März 1996.

Heute spielen seine in Sachen Umfang und Denkanspruch monumentalen Bücher universitär kaum eine Rolle mehr – vor einer Generation fand man seine Bände häufig in Regalen, die schlanken Essays Schiffbruch mit Zuschauer und Das Lachen der Thrakerin etwa. Wer zu Die Legitimität der Neuzeit, Arbeit am Mythos oder Die Lesbarkeit der Welt greift, wird überschwemmt von einzigartig enzyklopädischem Wissen und abseitigen Bezugswirbeln. Phänomenologie, Metaphorologie, Mythologie, Anthropologie, Wissenschaftsgeschichte, Philosophie der Technik und Optik, Theologiegeschichte, tiefschürfende Exkursionen in Musik und Eschatologie – Blumenberg ist äußerst anspruchsvoll. Philosophie war für ihn "Abbau von Selbstverständlichkeiten", reine Theorie, bewusst befreit von Relevanz oder Praxisbezug.

Jürgen Goldstein, "Hans Blumenberg. Ein philosophisches Porträt".€ 35,– / 624 Seiten. Matthes-&-Seitz-Verlag, Berlin 2020
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Die Welt neu lesen

"Das gesamte Werk Blumenbergs lässt sich als ein diskreter Selbstausdruck dieses Philosophen lesen", so Jürgen Goldstein, einst einer seiner Studenten. In seiner "Denkbiografie" will der Professor an der deutschen Universität Koblenz das Gesamtwerk nachzeichnen, dieses nicht "beurteilen, sondern es "beurteilbarer" machen. Blumenbergs große Relektüren der gedachten Welt fragen nach dem Wandel der epochalen Wirklichkeitsverhältnisse. Der Philosoph Odo Marquard nannte Blumenbergs Werke einmal "als gelehrte Wälzer getarnte Problemkrimis".

Ähnlich wie der ebenso produktive Soziologe Niklas Luhmann stützte sich Blumenberg auf ein kriminell ausgefeiltes System markierter und querverweisender Karteikarten. Um 1941 hatte er damit begonnen; im Lauf von 50 Jahren wuchs sich dies zu einem gigantischen Kombinationslabyrinth mit mehr als 30.000 Funden, Notizen, Überlegungen und "Reflexionsinseln" (Goldstein) aus. Ausuferndes, stolz Exzentrisches miteinander verbindendes Zitieren wurde ihm oft vorgehalten. Den Vorwurf parierte Blumenberg indirekt. Was sei die Gegenwart? Eine Zeit der Verachtung von Gelehrsamkeit. Und Bildung? "Bildung ist kein Arsenal, Bildung ist ein Horizont." Ungeschichtlichkeit, so Blumenbergs wie so häufig stilistisch brillante Wortfindung, ist "eine opportunistische Marscherleichterung mit verhängnisvollen Folgen".

Mehr oder weniger werkchronologisch geht Goldstein von Großbuch zu Großbuch. Das ist recht erhellend. Im Fortlauf verliert sich zusehends die Klarheit. An ihre Stelle treten ausgreifende Interpretationen und vorlesungsähnliche Erläuterungen, die in den Bereich aufmerksamer Feinminutiösität abgleiten. Aber auch dafür gibt es einen Blumenberg-Satz: "Belehren lässt sich ohne Einbuße an Autonomie keiner, aufmerksam machen jeder."

Rüdiger Zill, "Der absolute Leser. Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie". € 39,10 / 816 Seiten mit 43 Abb. Suhrkamp, 2020
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Ratsamer als Einstieg in Blumenbergs Denkkosmos ist Rüdiger Zills biografische Darstellung Der absolute Leser. Der Mitarbeiter des Potsdamer Einstein-Forums und Editor eines seiner Nachlassbände will den Philosophen als Leser vorführen und so dessen Lesestrategien, Denk- und Wühl- und Umwege aufzeigen. Zill geht vom Grundgedanken eines "Absolutismus der Wirklichkeit" aus. Im Gegensatz zu Goldstein hat er sich durch den riesigen, im Deutschen Literaturarchiv zu Marbach aufbewahrten Nachlass gepflügt und zitiert viel aus unbekanntem Material.

Auch für Zill gilt: Prägnanz schadet selten nur. Zu ausführlich etwa werden die Jugendjahre skizziert – allein die Diskussion der von Blumenberg verfassten Maturarede zieht sich über viele Seiten, genauso die Inaugenscheinnahme der Lektüre des Teenagers. So ist man auf Seite 124 erst im Jahr 1946 angelangt; so kommt es, dass Zills Buch noch um 200 Seiten länger als Goldsteins umfangsopulente Darstellung ist. Andererseits vermag Zill fundiert die Bedrängnisse des von den Nazis als "Halbjude" Eingestuften zwischen 1938 und 1945 vor Augen zu führen.

Zill bewegt sich viel näher entlang der Grenzen einer Lebensschilderung als Goldstein, der Privates diskret ausblendet. Zill hingegen zitiert, Leben, Karriere und Denken gründlich nachzeichnend, ausführlich aus ungedruckten Briefen und Fragmenten des Denkeinsiedlerkrebses, der ganz Eremit erst spät wurde. 43 Fotos zeigen Blumenberg als gesellig, Freund und Familienmensch.

Uwe Wolff, "Der Schreibtisch des Philosophen. Erinnerungen an Hans Blumenberg". € 16,50 / 136 Seiten. Claudius, 2020
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Erholung bietet nach diesen tiefgründelnden Großdarstellungen eine anekdotische Petitesse Uwe Wolffs. Auslöser seines Memorialdienstes war ein Geschenk des Sohnes Tobias, der Wolff den schweren Eichenschreibtisch des Vaters schenkte, dazu den "mit grizzlybraunem Cord der Siebziger Jahre" überzogenen Arbeitsstuhl.

1977. Münster, Westfalen. Schloss. Hörsaal S 8, Freitag, 14.15 Uhr. Hier entdeckte Wolff, Student der Theologie, Blumenbergs Vorlesung. "Mit Blumenberg war keine Schule zu machen." Dafür konnte man sich mit ihm anfreunden. Aus Fragen zu Vorlesungsinhalten ergaben sich Gespräche in Blumenbergs Sprechstunde, Lektürehinweise, die Übersendung kommentierter Zeitungsausschnitte, eine Korrespondenz. Das Büchlein ist aber auch deshalb klein, weil Wolff viele Ambivalenzen des hochgelehrten Denkers ausblendet. (Alexander Kluy, 13.7.2020)