Beginnen wir mit Marlene Dietrich, weil mit Marlene Dietrich beginnen ist immer gut. Es gibt also ein Foto der Schauspielerin, "Ankunft von Marlene Dietrich auf dem Gare Saint Lazare am 20. Mai 1933". Es ist das beste Foto der Welt. Die Dietrich trägt Sonnenbrille, Mantel, darunter Anzug, Hemd und Krawatte, die rechte Hand steckt im Gehen lässig in der Hosentasche, in der Linken hält sie einen Handschuh, natürlich. Ihr Mann geht bei ihr eingehängt, auf der anderen Seite ihr französischer Manager. Links im Bild sieht man den soeben verlassenen Zug, rechts im Bild staunen begeisterte Fans. Gründe, den Stil der Dietrich zu besingen, gibt es etliche, aber diesmal geht es um etwas anderes: den Bahnsteig und wie man ihn als Bühne zu nutzen weiß. Dieses Foto braucht den Bahnsteig. Dieser Frau gehört die Welt, das sagt dieses Bild, die Welt und ganz Paris warten auf sie und liegen ihr zu Füßen. Niemand von uns sieht nach einer Reise mit dem Nachtzug aus wie Marlene Dietrich.

Aber Bahnhöfe sind auch unsere Bühne. Wir kommen an. Wir fahren weg. Wir bringen Menschen zum Bahnhof, wir holen sie ab, wir umarmen, wir winken, wir warten, wir knutschen wild herum oder taten das zumindest vormals, sehr verliebt. Suchen nach dem geliebten Menschen, unter den Ankommenden oder den Wartenden, nach dem vertrauten Haarschopf, oder dem Kinderwagen. Der Bahnhof gehört uns, für ein paar Minuten, herausgerissen aus dem Alltag, zwischen daheim und anderswo.

Romantik in Wien West

Aus unerfindlichen Gründen hängt mein Herz am Westbahnhof, daran konnte auch der vielgeschmähte Umbau genau gar nichts ändern, erst der Corona-bedingt geänderte Radius und der deshalb später geschrumpfte Fahrplan setzten meinen geliebten wöchentlichen Verabredungen mit Wien West ein plötzliches Ende. Corona hat viel geändert, die Gedanken beim Wegfahren und die beim Ankommen und die Auseinandersetzung mit dem Daheimsein und dem Bewegungsraum, den man im Leben hat. Und nein, das liegt nicht an den Masken. Was macht sie aus, die Romantik vom Westbahnhof, allen Unkenrufen zum Trotz? Die Shoppingmall ist unter der Halle verräumt, nimmt ihr nichts vom alten Glanz. Einzig die große Uhr fehlt. Aber noch immer fällt an einem winterlichen Spätnachmittag die Sonne schräg durch die hohen Fenster, riecht es sommers auf dem Bahnsteig wie in einem Hafen, nach großer weiter Welt, nach dem Beginn einer Reise, nach heißem Metall, nach Maschinenöl. Beim Verlassen des Bahnhofs sinkt einem der Sommertag heiß in die Arme und der Fünfer wartet gegenüber bei der Straßenbahnhaltestelle. Man ist angekommen in der Stadt. Sie hat gewartet.

Hier kommt man an, in jeder Hinsicht. Das macht die Romantik des Westbahnhofs aus, allen Unkenrufen zum Trotz.
Heribert Corn

Eine Frage der Architektur

Am neuen Hauptbahnhof: keine Gefühle. Nichts. "Warnemünde" steht auf dem Zug, der mich heim nach Linz bringt, ich google auf dem Handy Bilder von Strand und Leuchttürmen, aber ich denke nur kurz ans Durchbrennen, es fühlt sich an, als endete der Zug heimlich in Wels und die Reise sei nur Behauptung. Auch hier finden sich manchmal auf dem Bahnsteig Herzen, mit dem Finger in den Staub einer Railjet-Tür gezeichnet, öffentliche Gefühle, die nur am Ort und im Moment ihres Festhaltens Bedeutung haben. Aber mich beschleicht immer der Verdacht, sie kommen aus Attnang-Puchheim (freitags, nach der Schule!), nicht von hier. Es hat gedauert, bis mir beobachtend klar wurde: Küssen ist nicht nur eine Frage der Gelegenheit, sondern auch eine der Architektur.

Auf dem Westbahnhof an einem lauen Frühlingstag wird dermaßen viel herumgeschmust, dass es eine helle Freude ist (höchste Liga der Zärtlichkeit: mit einem sanft nach hinten abgewinkelten Bein vor lauter Dings. Oder gar mit Hebefigur!). Und wir wissen: An den Reisezielen kann es auf dem inzwischen zum Regionalbahnhof dezimierten Westbahnhof kaum mehr liegen, selbst bei größter Liebessehnsucht nach St. Pölten. Und selbst bei Maskenpflicht: zärtliche Liebestänze in geordnetem Abstand.

Kein Kuss am Hauptbahnhof

Doch woran liegt es nun, dass auf dem Hauptbahnhof niemand knutscht? Weil ungeklärte Gefühle Gebäuden gegenüber belastend sind, traf ich mich mit Anna-Vera Deinhammer von der Stadtbaudirektion Wien, promovierte Architektur-Morphologin und damit also einer Frau vom Fach. Gemeinsam erkundeten wir den Westbahnhof und stellten fest: Man kann ihn "surfen", so Deinhammer. Mit Schwung geht es direkt vom Zug auf den Bahnsteig, durch die Tür und um die Kurve, auf die Rolltreppe oder die Stiegen, die Halle mit ihren Panoramafenstern erlaubt bereits einen weiten Blick in die Stadt. Derweil man durch den ankommenden Schwung kurz von der eigenen Bedeutung überzeugt ist, gehört die Halle aber auch den Wartenden, Zonen ohne Konsumzwang ermöglichen auch Nur-sitzen-und-blöd-schauen, eine der wichtigsten aller Kulturtechniken, vor allem an Orten des Reisens.

Der Weg zur U3, gebremst durch die Stiege, hat seine früheren dunklen Ecken verloren. Hier erinnert in der Halle oben rechts vorm Abgang zur U3 das "Denkmal für das Kind" der Bildhauerin Flor Kent aus dem Jahr 2008 an die 10.000 mehrheitlich jüdischen Kinder, die 1938 durch die sogenannten Kindertransporte nach England vor der Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime gerettet werden konnten. Auf Augenhöhe sieht einen das bronzene Kind auf seinem Koffer an, beleuchtet von einem Spot, es führt kein Weg daran vorbei, es ist eines der alltäglichsten und am prominentesten platzierten NS-Denkmäler in einem Nutzbau, weit entfernt von einer Tafel irgendwo in einem finsteren Winkel, die man getrost ignorieren kann.

Nicht alle Bahnhöfe laden so zum Schmusen ein, wie der Westbahnhof.
Heribert Corn

Ende oder Durchgang

Mit Kathedralen wurden große Bahnhöfe gern verglichen, aber Menschen, die in jungen Jahren von hier aus je auf Interrail unterwegs waren, wissen: Gemeint sind damit keine aktuell existierenden Bahnhöfe aus Österreich. Kathedralen, das sind der Gare de Lyon in Paris, der Bahnhof von Amsterdam oder Paddington Station in London. Insofern gibt es auch keinen Grund, gar dem alten Südbahnhof nachzutrauern, der doch nur Ausgangspunkt für eine Reise zum Bahnhof Venezia Santa Lucia blieb. Überhaupt: Es geht hier nicht um Bahnhofshaltungsnoten, die wurden in den letzten Jahren zur Genüge verteilt. Auch nicht um Bahnhofssentimentalität. Die Frage ist: Warum werden wir auf dem Bahnhof sentimental? Und warum nicht? Wie steuert die Architektur eines Baues unser Bedürfnis zu verweilen? Und das hat erstaunlich wenig mit privaten Sehnsuchtsorten oder der eigenen Küsshistorie zu tun.

Die einfachste Erklärung: Der Westbahnhof ist ein Kopfbahnhof, hier endet der Zug, bleibt er stehen (deshalb auch der Geruch nach Maschinenöl). Der Hauptbahnhof ist ein Durchgangsbahnhof, ein Transitort. Wer vom Flughafen Wien mit dem Zug weiterfährt, weiß: Hier kommt man nicht an, hier fährt man durch. Nicht umsonst ist inzwischen womöglich Meidling Wiener Nutzerinnen und Nutzern dem Hauptbahnhof als Tor zur Welt ebenbürtig. Der Hauptbahnhof hat viel zu tun: Er hält Stadtteile zusammen, die S-Bahn und das U-Bahn-Netz. Fürs Küssen blieb da keine Zeit. Noch wirken die neuen Gebäude drumherum, die Hotels und die Büros aus dem Boden gestampft. Man fühlt sich wie ein Kunststoffmaxl in einem überdimensionalen Architekturmodell. Hier ist kein Dreck, keine Trafik, kein echtes Bezirksleben. Noch. Und wer soll eine hier abholen? Jemand, der zufällig ums Eck im Büro sitzt? Und verdammt noch einmal wo? Überraschungen romantischer Natur sind kaum möglich an einem Ort, den man in vier Richtungen verlassen kann. Hier herrscht Kommen und Gehen, kein Verweilen. Kein Schild sagt: "Küssen: Hier!" Wer sich direkt am Waggon herzlich verabschieden will, hat dafür bei einem dreiminütigen Halt von internationalen Zugverbindungen wenig Zeit. Romantik auf dem unterirdischen Weg zur U1? Schwierig.

Blumen, für dich

Es hat schon einen Grund, warum es keine Postkarten vom Hauptbahnhof gibt. Die muss man vom Reiseziel selbst mitbringen. Hier wartet der D-Wagen zutraulich, allerdings im gefühlten Nirgendwo. Immerhin, die Gerhard-Bronner-Straße liegt hier, in Favoriten. Ob sie schon oft in einem Taxi angesagt wurde? Knutschen hier geht definitiv nur nach Vereinbarung. Aber vielleicht ist es dafür einfach höchste Zeit. Immerhin: Eine Blumenhandlung gibt es auch auf dem Hauptbahnhof, versteckt im Untergeschoß. Sie wissen, was zu tun ist. (Julia Pühringer 11.7.2020)

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