Die Darstellung der Ausschreitungen in Wien-Favoriten sei in weiten Teilen der Politik und in Teilen der Medien falsch gewesen, sagt der Politikwissenschafter Thomas Schmidinger gleich zu Beginn der Videodebatte bei "STANDARD mitreden". Hier seien in der vergangenen Woche keinesfalls zwei Gruppen von Migranten gewaltsam aneinandergeraten, es gehe nicht um aus dem Ausland importierte Konflikte. "Sondern hier aufgewachsene und sozialisierte junge Männer mit rechtsextremen Positionen, die sie in Österreich erlernt haben, sind auf antifaschistische Demonstranten gewaltsam losgegangen." Das sei das eigentliche Favoriten-Thema.

Schmidinger richtete diese kritischen Worte an Heinz-Christian Strache. Strache ist Chef der der neuen Allianz für Österreich (DAÖ), die bei der Wien-Wahl antritt. Und er hatte zuvor von importierten Konflikten aus der Türkei gesprochen, von gewaltbereiten jungen Kurden und Türken auf Wiens Straßen.

Zu lange weggeschaut?

Strache sagte in Hinblick auf die Krawalle, das rot-grüne Wien habe zu lange weggesehen und islamistische Umtriebe toleriert, angefangen bei Kindergärten, die von islamischen Vereinen betreiben werden. Bei jungen Erwachsenen korrigierend eingreifen zu wollen sei dann fast schon zu spät, so Strache.

Es war der erste Auftritt Straches zu einem kommenden Thema im Wien-Wahlkampf, das nichts mit dem Ibiza-Skandal zu tun hat. Dabei war gut zu sehen: Das Thema wird der Ex-Vizekanzler nicht los, auch bei vermeintlich einfacher Themenlage für ihn.

Ellensohn sprach ihn auf Ibiza an: Keiner habe einen größeren Beitrag zur Schwächung des Rechtsextremismus in Österreich geleistet als "Heinz-Christian Strache mit seinem Auswärtsspiel in Ibiza". Ibiza und Strache würden dazu führen, dass die FPÖ in Wien nicht nur halbiert, sondern gevierteilt werde – und das verbessere das Zusammenleben der Menschen in Österreich und Wien wesentlich, weil dann auch entspannter über Integrationsfragen diskutiert werden könne.

Ellensohn sagte auch, rechte Tendenzen gebe es bei Österreichern wie bei Türken, das sehe man an Strache selbst. "In der Türkei gibt es bekanntlich keine FPÖ", so Ellensohn. Wäre Strache "in Istanbul geboren, wäre er also selbst bei den Grauen Wölfen gelandet".

Strache konterte, er werde angepatzt, weil seine Meinungen unangenehm seien und Ellensohn nur von den eigentlichen Probleme ablenke – die Österreicher würden dieses Spiel inzwischen durchschauen.

Bringt Wahlrecht mehr Integration?

Hitzig diskutiert wurde über politische Integration der Menschen mit Migrationshintergrund. Ellensohn ließ mit der Forderung aufhorchen, jungen Migranten nach fünf Jahren Aufenthalt in Österreich das Wahlrecht zu geben – und zwar nicht nur in Wien, sondern auch auf Bundesebene. Das wäre für ihn ein Schritt zur Deradikalisierung und dazu, die Leute von türkischem Einfluss wegzubringen. In manchen Wiener Bezirken dürften 40 Prozent der Bewohner nicht wählen. "Wenn man will, dass sich Menschen an Demokratie beteiligen, muss man ihnen auch die Möglichkeit geben, sich zu beteiligen." Strache widersprach heftig, nannte das Wahlrecht für Österreicher ein "heiliges Recht".

Hilft das Wahlrecht gegen Radikalisierung? Was Schmidinger dazu sagt und wie er die Rolle der Türkei im Konflikt sieht – die Antworten darauf gibt es im Video. Ebenfalls zu sehen: warum Ellensohn nicht glaubt, dass die Grünen ein "blindes Auge" gegenüber Integrationsproblemen in Wien gehabt haben. Dazu prallen Schmidinger und Strache bei der Bewertung der Demonstration in Favoriten aufeinander. Sehen Sie dort auch, wie Strache auf neue Vorwürfen in der Ibiza-Causa reagiert.

Eine Anmerkung zur Einladung von Heinz-Christian Strache: Zu dieser Video-Diskussion wurden viele unterschiedliche Personen eingeladen, um das gesamte Spektrum der Debatte abzubilden, darunter auch den Spitzenkandidaten des "Teams HC Strache", der trotz laufender Untersuchungen zum Ibiza-Skandal bei der Wien-Wahl antritt. DER STANDARD hat zum Thema Rechtsextremismus und Graue Wölfe schon viele Stimmen zu Wort kommen lassen, geplant ist auch eine weitere Videodebatte in unserem Format "Mitreden", das sich als Diskursformat für Rede und Widerrede versteht. (Video: Andreas Müller, Text: András Szigetvari, 30.6.2020)