Das Tragen von Masken – hier an einer Statue in Paris demonstriert – wird in Österreich ab Mitte Juni vielerorts von der Pflicht zur Kür. Soll man wirklich auf sie verzichten?

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Wien – Welch beispiellose Ausnahmesituation die Corona-Krise ist, zeigt sich nicht zuletzt an der Selbstverständlichkeit, mit der manche neu definierten Begriffe verwendet werden. "Lockdown" als Synonym für Kontaktverbote, die sich bei näherer Betrachtung als weit weniger durchgreifend herausstellten, als sie kommuniziert wurden, waren ein solches Beispiel. "Hochfahren", um auszudrücken, dass man sich in Lokalen, Hotels, in der Wirtschaft und im Sport eine Wiederannäherung an existenzsichernde Zustände traut ein weiteres.

Und nun also "Eigen-" oder "Selbstverantwortung": "Die schrittweisen Lockerungen und Öffnungen überall in Europa sind nichts anderes als die teilweise Rückübertragung der Verantwortung vom Staat auf die Bürger", war vor wenigen Tagen etwa in der Neuen Zürcher Zeitung zu lesen.

Auch in Österreich will man künftig auf das Prinzip Eigenverantwortung setzen, hoffend, dass es sich die Bevölkerung zu Herzen nimmt. Konkret werde es in der nächsten Phase der Pandemiebewältigung "weitere Lockerungen der Corona-Maßnahmen" geben, "wenige und klare Regelungen", sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP).

Am Freitag wurde er konkret: Ab 15. Juni fällt die Pflicht zum Tragen des Mund-Nasen-Schutzes in der Öffentlichkeit großteils weg, die Sperrstunde in der Gastronomie wird auf ein Uhr ausgeweitet, das Vier-Personen-Limit pro Tisch fällt.

Hausverstand in Seuchenzeiten

Die künftige neue Lockerheit sei mit "so viel Hausverstand wie nur möglich" anzuwenden, betont Kurz. Das Virus nämlich sei weiterhin gefährlich, Rückschläge seien jederzeit möglich: "Solange es keine Impfung oder Medikament gibt, wird uns die Krankheit begleiten. Sie ist nicht weg, sie ist nicht ausgelöscht, sie ist nach wie vor Realität."

Der Hausverstand – es ist wohl kein Zufall, dass sich der kommunikationsgewandte Kanzler auf eine profane, den alltäglichen Dingen des Lebens zugewandte Sichtweise bezieht. Tatsächlich erscheint etwa – um ein Beispiel zu nennen – die Entscheidung, ob man sein Kind zur Schule schicken soll, wenn im Haushalt ein Mensch lebt, der einer sogenannten Risikogruppe zuzurechnen ist, eine rein praktische Erwägung.

Philosoph Liessmann: keine Selbstverantwortung ohne Wissen

Nur: Kann man einen solchen Beschluss als Einzelner wirklich in voller Selbstverantwortung treffen, wenn dessen Grundlagen schwer umstritten sind? Selbst unter Wissenschaftern, die sich derzeit nach Kräften bemühen, zu einer validen Einschätzung des Infektionsrisikos durch Kinder zu gelangen, aber noch nicht genug Zeit dafür hatten, besteht hier ja weiterhin Unsicherheit.

Nein, das kann man nicht, antwortet der Philosoph Konrad Paul Liessmann im Standard-Gespräch auf diese Frage. Der Mangel an gesichertem Wissen widersetze sich einer wirklich selbstverantwortlichen Entscheidung, wie sich am Schulkinder-Beispiel zeige. Viele Menschen am Ende der Entscheidungskette fühlten sich mit Recht überfordert. Als Bürgerinnen und Bürger würden sie ein Stück alleingelassen.

Verantwortung an Bürger delegiert

Tatsächlich kann man sich im Umgang mit den Corona-Lockerungen dem Eindruck fortgesetzter Verantwortungsdelegierung nicht entziehen. Experten wie etwa der deutsche Virologe Christian Drosten weisen mit Recht darauf hin, dass sie lediglich die Grundlagen für Politikerentscheidungen liefern können. Die Politiker wiederum müssen mit den bestehenden Unabwägbarkeiten umgehen. Auch wenn ihren Beschlüsse der Input unterschiedlichster Fachrichtungen zugrunde liegt – die besagten Unabwägbarkeiten geben sie an die Bürgerinnen und Bürger weiter.

Hier widerspricht Elisabeth Puchhammer-Stöckl, Virologin an der Med-Uni Wien. Alleingelassen werde niemand, denn allgemeine Vorgaben existierten durchaus: "Die Abstandsregeln, die Maskenpflicht an manchen Orten, die Empfehlungen für Menschen mit höherem Erkrankungsrisiko", erklärt sie mit einer Aufzählung.

Puchhammer-Stöckl: Virologen würden zu Lockdown raten

All das seien Regeln, um den Einzelnen etwas an die Hand zu geben, "das ihm ein einigermaßen normales Leben ermöglicht". Dabei handle es sich um Handlungskompromisse, denn: "Vom wissenschaftlich-epidemiologischen Standpunkt aus betrachtet wäre es am besten, niemand gehe hinaus."

Den Aufruf zu selbstverantwortlichem Handeln zur Viruseindämmung betrachtet Virologin als große Chance: "Er ermöglicht ein großes Stück Freiheit, denn er setzt auf die Mündigkeit der Bevölkerung. Die Alternative dazu ist Zwang. In China gibt es fast keine Infektionen mehr. Dafür ist die Bewegungsfreiheit jedes Einzelnen streng geregelt."

Abkehr vom Nanny-Staat

Auch der Philosoph Liessmann konstatiert in Österreich derzeit in eine "nicht uninteressante Abkehr von bisherigen Tendenzen zum Nanny-Staat". Richtig frei könne in Corona-Zeiten aber niemand sein. Das Virusrisiko und dessen Folgen für die Allgemeinheit begrenzten den Handlungsspielraum jedes Einzelnen.

Tatsächlich setzt eigenverantwortliches Vorgehen voraus, dass eine Person die möglichen Konsequenzen ihres Tuns im Voraus abwägen kann. Dass sie bereit ist, die Folgen auf sich zu nehmen- so wie das ein freier Unternehmer unter wirtschaftsliberalen Umständen tut. "Das aber", so Liessmann, "funktioniert angesichts einer ansteckenden Krankheit nicht. Dann sind von jedem eingegangenen Risiko automatisch andere Menschen existenziell betroffen."

Eng ans Kollektiv gebunden

Dieser Umstand bindet den Einzelnen in Seuchenzeiten eng an das Kollektiv. Wer – unter normalen Umständen – etwa Drachen fliegt oder eine andere Risikosportart betreibt, kann seine Angehörigen mittels eines Testaments absichern. Weiteren Menschen schadet er im Fall seines Todes nicht.

Ein mit Corona infizierter Mensch hingegen, der sich nicht an die Quarantäneauflagen hält, kann im schlimmsten Fall dutzende andere anstecken. Damit gefährdet er im Extremfall sogar das Gesundheitswesen insgesamt: Eine Erkrankung, die sich laut zuletzt bestärkten Erkenntnissen via "Superspreader"-Ereignissen innerhalb von Clustern explosionsartig verbreiten kann, stellt diesbezüglich eine besondere Herausforderung dar.

Verfassungsrechtler Funk: Mitwirkungspflicht

Wer eigenverantwortlich handeln wolle, müsse sich daher seiner Fremdverantwortung bewusst sein, meint hier der Verfassungsrechtsexperte Bernd-Christian Funk. Je lockerer die Regeln zur Beherrschung des Coronavirus seien, desto ernster müsse der Einzelne seine Pflichten zur Mitwirkung an der Viruseindämmung nehmen.

Andernfalls könne ihm der Vorwurf fahrlässigen Handelns gemacht werden, im Extremfall auch vor Gericht. "Wer etwa den Verdacht hat, an Corona erkrankt zu sein, sollte sich rasch testen lassen und sich isolieren. Die Einstellung ‚Es wird schon nicht dieses Virus sein‘ ist in der aktuellen Lage die verkehrte Reaktion." (Irene Brickner, 30.5.2020)