Finanzminister und ÖVP-Landesparteiobmann Gernot Blümel im Wiener Rathaus anlässlich des "Kleinen Neubauer Opernballs".

Foto: Heribert Corn

Sebastian Kurz und seiner politischen Entourage hängt bisweilen der Nimbus des gewieften strategischen Kalküls an. Ganze Bücher widmen sich den öffentlich wenig bekannten, aber zweifellos klugen Köpfen im Umfeld des Bundeskanzlers. Sehr schnell ist auch der (vage) Begriff "Message-Control" zur Hand, um die Kommunikationspolitik des türkisen Führungsteams zu beschreiben. Immer ist die Implikation dabei, dass hier planvoll kalkulierend vorgegangen wird – nichts passiere ohne Strategie.

Umso rätselhafter ist, wie die Bundes-ÖVP nicht erst seit gestern versucht, im rot-grün regierten Wien zu reüssieren. Schon im Wahlprogramm 2017 fanden sich dutzende Seitenhiebe auf die Wiener Stadtregierung. Anfang 2019 folgte der notorische Früh-aufstehen-Sager. Und jüngst gesellte sich türkise Kritik an der Wiener Strategie zur Pandemiebekämpfung hinzu. Das alles zeigt eines klar und deutlich: Die ÖVP führt den Wiener Wahlkampf von der Bundesebene aus.

Die Idee dazu ist übrigens schon älter: "Nur als Minister können Sie auf Augenhöhe mit dem Bürgermeister in ein Match gehen", sprach schon 2011 der ehemalige Wiener VP-Chef Bernhard Görg in einem Interview. Derzeit befinden sich sogar drei stark in der Wiener Stadtpolitik verankerte Personen im türkisen Regierungsteam: Neben Sebastian Kurz (ehemals JVP-Landesobmann und Landtagsabgeordneter) sind das Innenminister Karl Nehammer (derzeit ÖAAB-Landesobmann und Bezirksparteivorsitzender in Hietzing) und Finanzminister Gernot Blümel (ehemals Stadtrat und derzeit Landesparteiobmann).

Regionale Bedürfnisse und Landespolitik

Die Bundes-ÖVP ist also stark von der Wiener Landespartei geprägt. Nicht zufällig also, dass die Wiener Volkspartei stärker als andere den Wechsel von Schwarz zu Türkis mitvollzogen hat (die sogenannte "Westachse" etwa tanzte sowohl inhaltlich als auch in puncto Koalitionsbildung zunächst aus der Reihe). Dass einzelne Länder hie und da von der Bundeslinie ausscheren, ist aber nicht einfach nur Folklore des Parteienföderalismus. Diese Flexibilität garantiert, dass eine Landespartei ihre Programmatik an regionale Bedürfnisse und Präferenzen anpassen kann. Umso eigenartiger mutet es an, dass die sonst so strategisch agierende ÖVP-Spitze diese Option für den Wiener Wahlkampf 2020 völlig links liegen lässt.

Die Grafik unten zeigt, dass die Einstellungen der Wiener Wählerschaft in vielen Bereichen weiter links (im weit gefassten Sinne) verortet sind, als das in den anderen Bundesländern der Fall ist. Dargestellt wird die Nettozustimmung (Saldo aus Zustimmung und Ablehnung) des jeweils als "links" klassifizierten Endes der Antwortskala (also etwa stärkere Bekämpfung sozialer Ungleichheit, mehr finanzielle Belastungen für den Umweltschutz, positivere Sichtweisen von Zuwanderung etc.). Beim Großteil der hier gezeigten Themen liegen die Wiener Befragten mehr als zehn Prozentpunkte weiter links als die Befragten in den anderen Bundesländern.

Demnach wäre es strategisch naheliegend, würde die Wiener ÖVP in manchen Fragen eine etwas moderatere Linie als die türkise Bundespartei verfolgen. Das wäre nicht nur hilfreich, wollte man eine seit 1945 bestehende linke Mehrheit im Wiener Landtag brechen. Es würde – falls das nicht gelingt – auch dabei helfen, wenn man etwa Grüne und Neos zu einer erstmals nicht SPÖ-geführten Koalition überreden wollte.

Gerade die türkise ÖVP hat eindrucksvoll bewiesen, dass sie versteht, wie man inhaltliche Neupositionierungen vornimmt, um Wählerstimmen zu maximieren. Mit ihrem Rechtsruck in Migrationsfragen hat sie vielen FPÖ-Sympathisanten den Teppich ausgerollt – und das mit bis heute anhaltendem Erfolg. Dieselbe strategische Flexibilität lassen die Türkisen aber für Wien (wo es im Unterschied zum Bund strukturell keine rechte, sondern eine linke Mehrheit gibt) komplett vermissen. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 27.5.2020)