Wie viel Materie und Energie enthält der Kosmos? Unterschiedliche Messmethoden kommen zu voneinander abweichenden Ergebnissen. (im Bild: der Emissionsnebel 30 Doradus)
Foto: APA/AFP/ESA/Hubble/I.STEPHENS

Wie viel wiegt das gesamte Universum? Um eine Antwort auf diese keineswegs triviale Frage zu finden und einigermaßen verlässliche Daten über die Materiedichte und -struktur im Kosmos zu gewinnen, kommen unterschiedliche Messverfahren zum Einsatz. Das Problem dabei: Je nach Messmethode gelangten Kosmologen zu deutlich unterschiedlichen Resultaten. Eine neue Analyse, die zusätzliche Infrarotdaten miteinbezog, ließ diese Unterschiede noch deutlicher werden. Dies könnte darauf hinweisen, dass das Standardmodell der Kosmologie fehlerhaft ist.

Üblicherweise werden Materiedichte und -struktur mittels zweier Methoden bestimmt: Zum einen kann der kosmische Mikrowellenhintergrund als Berechnungsgrundlage herangezogen werden, eine Strahlung, die kurz nach dem Urknall ausgesandt wurde und noch heute messbar ist. Dieses Verfahren hat das Planck-Forschungskonsortium verwendet.

Abgelenktes Licht

Die neueste Analyse eines Forschungskonsortiums namens Kilo-Degree Survey um Hendrik Hildebrandt von der Ruhr-Universität Bochum basiert dagegen auf dem Gravitationslinseneffekt: Massereiche Objekte lenken das Licht von Galaxien ab, sodass diese Galaxien von der Erde aus betrachtet mit verzerrter Form an einer anderen Stelle erscheinen, als sie tatsächlich sind. Aus diesen Verzerrungen können Kosmologen auf die Masse der ablenkenden Objekte und somit auf die Gesamtmasse des Universums zurückschließen. Diese beträgt demnach rund 1054 Kilogramm, also eine Million Quadrillionen Quadrillionen Kilogramm.

Massereiche Objekte im keine perfekten Linsen. Während sie das Licht ablenken, erzeugen sie Verzerrungen. Die Bilder sehen so aus, als ob man durch den Fuß eines Weinglases schaut.
Illustr.: Roberto Schirdewahn

Dazu müssen sie jedoch unter anderem die Abstände zwischen Lichtquelle, ablenkendem Objekt und Beobachter kennen. Diese wiederum ermitteln die Forscher mithilfe der Rotverschiebung, die besagt, dass das Licht weiter entfernt liegender Galaxien ins Rote verschoben auf der Erde ankommt.

Um Entfernungen zu ermitteln, nehmen Wissenschafter daher Bilder der Galaxien bei unterschiedlichen Wellenlängen auf, zum Beispiel eines im blauen, eines im grünen und eines im roten Bereich; dann bestimmen sie die Helligkeit der Galaxien auf den verschiedenen Bildern. Hildebrandt und sein Team beziehen dabei zusätzlich mehrere Aufnahmen aus dem infraroten Bereich ein, was die Präzision der Entfernungsbestimmung verbessert.

Merkwürdige Abweichungen

Frühere Analysen hatten bereits gezeigt, dass die auf dem Mikrowellenhintergrund basierenden Daten des Planck-Konsortiums systematisch von den Gravitationslinseneffekt-Daten abweichen. Je nach Datensatz war die Abweichung mehr oder weniger stark ausgeprägt, am stärksten beim Kilo-Degree Survey. "Unser Datensatz ist der einzige, der auf dem Gravitationslinseneffekt beruht und mit zusätzlichen Infrarotdaten kalibriert ist", sagt Hildebrandt. "Das könnte der Grund für die stärkere Abweichung zu den Planck-Daten sein."

Um diese Diskrepanz zu überprüfen, wertete die Gruppe den Datensatz eines anderen Forschungskonsortiums, des Dark Energy Survey, mithilfe einer ähnlichen Kalibrierung aus. Dadurch entfernten sich auch diese Werte weiter von den Planck-Werten, wie die Forscher im Fachjournal "Astronomy and Astrophysics" schreiben.

Ob es sich bei der Diskrepanz zwischen den Datensätzen tatsächlich um einen Hinweis darauf handelt, dass das Standardmodell der Kosmologie falsch ist oder nicht, wird in der Fachwelt derzeit diskutiert. Das Team des Kilo-Degree Survey arbeitet bereits an einer neuen Analyse eines umfangreicheren Datensatzes, der weitere Erkenntnisse beisteuern könnte. Voraussichtlich im Frühjahr 2020 werden sie noch präzisere Daten für Materiedichte und -struktur liefern können. (red, 25.5.2020)