"Im Fall von Corona haben wir noch einige gesundheitspolitische Debatten vor uns. Angenommen, wir haben irgendwann einen Impfstoff: Soll es dann eine Impfpflicht geben?", fragt Ethiker Ulrich Körtner. Immerhin gebe es auch ein "Recht auf selbstschädigendes Verhalten".

Foto: Hans Hochstöger

STANDARD: Als Theologe und Medizinethiker beschäftigen Sie sich schon immer mit Fragen von Krankheit, Gesundheit und Tod. Wie haben Sie den Lockdown erlebt?

Körtner: Als abrupte Vollbremsung mit Schockwellen, denn so wie die meisten anderen hatte ich nicht mit der Massivität dieser Maßnahmen gerechnet. In den vergangenen Wochen war ich dann in einer Art Doppelrolle. Als Privatperson einerseits, ich denke, da habe ich vieles genauso empfunden wie alle anderen, zum anderen aber auch in meiner Profession als Medizinethiker, der diesen Ausnahmezustand als gesellschaftliches Phänomen beobachtet.

STANDARD: Gab es da etwas, was Sie erstaunte?

Körtner: Es war interessant, wie widerspruchslos die Mehrheit der Bevölkerung die neuen Regeln befolgt hat. Auch für mich schienen die Entscheidungen vernünftig zu sein. Die Politik hat das mitunter auch durch viele sehr emotionale Kampagnen erreicht. Die Message war: Junge müssen die Alten schützen. Das ist sympathisch, aber auch zwiespältig.

STANDARD: Inwiefern?

Körtner: Solidarität zwischen Jung und Alt: Das war gut gemeint, um die Bevölkerung zu motivieren. Zwiespältig war es, weil es letztendlich nicht vollständig stimmte. Es ging in erster Linie darum, das Gesundheitssystem vor einer Überlastung und damit einem Zusammenbruch zu bewahren. Von einem Zusammenbruch wären allerdings alle Menschen, also auch die Jungen, betroffen gewesen. Und wollte man noch genauer hinsehen, könnte man feststellen, dass es Leute gegeben hat, die durch den Lockdown der Spitäler zu einem Schaden kamen.

STANDARD: Der drohende Tod durch eine Corona-Infektion hat stets dominiert. Was sagen die vergangenen Wochen über den Umgang mit dem Sterben in unserer Gesellschaft aus?

Körtner: Die Pandemie zeigt einmal, wie weltlich unsere Gesellschaft geworden ist. Sie wird nicht als ein unausweichliches Schicksal betrachtet, sondern als eine Situation, die von der Regierung, den Behörden und der Exekutive gemanagt werden kann. Ethische Dilemmata wären entstanden, wenn Ärzte Todkranken eine Therapie hätten verweigern müssen. Wir kamen in Österreich aber nicht einmal in die Nähe dieser Situation. Insofern blieb der Tod also eine statistische Größe, die es zu minimieren galt. Das sagt sehr viel darüber aus, wie säkular die Sicht auf das Leben ist. Religion als Hilfe in Krisen war kein Thema. Zusätzlich geriet sie in der Corona-Krise sogar in die Kritik, weil sich religiöse Versammlungen hier und dort als Hotspots für die Ausbreitung des Virus herausgestellt hatten. Das heißt: Religionsausübung gilt plötzlich als öffentliches Sicherheitsrisiko.

STANDARD: Denken Sie, dass das auch der Grund dafür ist, dass in der Beraterkommission der Bundesregierung Ethiker oder Vertreter der Kirchen keine Stimme haben?

Körtner: Nein, das war keine bewusste Entscheidung gegen die Religionsgemeinschaften. Nachträglich wurde ja noch die Vorsitzende der Bioethik-Kommission ins Team geholt. Die Corona-Krise verdeutlicht aber, welche Teilsysteme in unserer Gesellschaft dominieren. Die Mehrheit akzeptierte, dass Religion ins Private gedrängt wurde. Kirche fand plötzlich nur noch am Bildschirm statt. In vergangenen Epochen wäre es in so einer Krise undenkbar gewesen, dass kein Vertreter der Religionen zu Wort kommen. Überhaupt haben die Bürger und Bürgerinnen nicht hinterfragt, wie sich der Beraterstab zusammensetzt und auf wen sich die Bundesregierung eigentlich stützt. Klar war nur, dass es Wissenschafter sind, Virologen und Mathematiker. Ich fand das deshalb sehr interessant, weil diejenigen, die die mitunter wirklich schwierigen Entscheidungen dieses Expertengremiums kommunizierten, stets die Politiker waren. Eine Pressekonferenz jagte die andere. Politiker wurden zu den Gesichtern der Krise, und Sebastian Kurz und Rudolf Anschober konnten sich als Macher und Manager inszenieren.

STANDARD: Doch gerade wenn es um Tod und Sterben geht, wären Religionen für viele Menschen doch sehr relevant ...

Körtner: In der Corona-Krise erreichte die moderne Einsamkeit der Sterbenden einen neuen Höhepunkt. Sie wurde aus Gründen der Hygiene jedoch hingenommen, man verweigerte auch den Seelsorgern in den Kliniken den Zugang zu den Sterbenden. Begräbnisse konnten wegen der Ausgangsregelungen nur noch im engsten Kreis stattfinden. Das heißt: Sterben fand im Grunde im Verborgenen statt. Das wurde hingenommen.

STANDARD: Und was folgern Sie daraus?

Körtner: Es ist hundertprozentig sicher, dass jeder Mensch, also jeder von uns, sterben wird. Trotzdem wird der Tod heute als kollektive Bedrohung betrachtet, die es um jeden Preis zu verhindern gilt. In der Corona-Krise wurde der Tod zu einer statistischen Größe, die es nach unten zu drücken gilt. Der französische Historiker Philippe Ariès spricht nicht zufällig vom "verwilderten Tod" in der modernen Gesellschaft.

STANDARD: Was meint Ariès?

Körtner: Der Umgang mit dem Tod ist hochgradig paradox. Er ist Thema, zum Beispiel in Kriminalfilmen, wird aber gleichzeitig kaschiert. Einerseits gilt der Tod als natürliches Ende, andererseits soll der Tod zur Unzeit vermieden werden. Das heißt: Ein natürlicher Tod ist eigentlich eine Utopie. Denn auch der vermeintlich natürliche Tod eines Menschen wird heute technisch und medikamentös begleitet. Der Tod soll kein Skandal mehr sein. Erhofft wird ein friedliches Erlöschen, dass die Gesellschaft dann auch nicht mehr berührt. In der Corona-Krise wurde der Tod hingegen als eine kollektive Drohkulisse aufgebaut, zum Beispiel vom Bundeskanzler: "Bald wird jeder einen Menschen kennen, der an Corona gestorben ist."

STANDARD: Und das betrachten Sie als Dilemma?

Körtner: Der gesellschaftliche Umgang mit dem Tod ist eine hochpolitische Frage. In einer freiheitlichen Gesellschaft entsteht ein Zielkonflikt zwischen der Einsicht, dass der Tod unvermeidlich zum Leben gehört, und dem Bestreben, den Tod wenn irgend möglich zu verhindern. Die Freiheit zum Leben schließt die Freiheit zum Sterben ein. Für die Politik ist das ein Zielkonflikt.

STANDARD: Warum?

Körtner: Das Individuum und die Würde des Menschen haben in unserer Gesellschaft einen sehr hohen Stellenwert. Selbstbestimmtheit und Individualismus, wie wir sie für selbstverständlich halten, funktionieren aber nur in einem starken Rechts- und Sozialstaat mit seinen Absicherungssystemen. Zu ihnen gehört ein funktionsfähiges Gesundheitssystem. Zu seinem Erhalt sind Einschränkungen individueller Freiheitsrechte in Krisenzeiten gerechtfertigt. Gesundheitsvorsorge darf aber nicht in einen Zwang zur Gesundheit umschlagen. In den letzten Wochen wurde alles auf die Corona-Infektion fokussiert. Wir müssen aber viel grundsätzlicher über vorhandene Ressourcen und ihre Verteilung im Gesundheitssystem diskutieren.

STANDARD: Über welche Fragen genau?

Körtner: Über den Stellenwert des Gesundheitssystems in unserer Gesellschaft und die Frage, was es uns wert ist. Schließlich wollen wir auch ein funktionierendes Bildungssystem, Infrastruktur, Kultur, innere und äußere Sicherheit. Auch innerhalb des Gesundheitssystems geht es um die Verteilung von Ressourcen und dabei nicht nur um mögliche Unterversorgung, sondern auch um Überversorgung und Fehlentwicklungen.

STANDARD: Aber auch um Fragen, die jeden unmittelbar betreffen.

Körtner: Wie viel ist unserer Gesellschaft das einzelne Menschenleben wert? Soll es eine Lebenserhaltung um jeden Preis geben? Es sind komplexe demokratiepolitische Bewertungen. Der Diskurs sollte öffentlich und unter Einbeziehung vieler unterschiedlicher Interessen- und Berufsgruppen geführt werden.

STANDARD: Doch auch in Hinsicht auf die Regeln, die es im Sinne des Containments einzuhalten gilt, oder?

Körtner: In der akuten Gefahrenlage war es zulässig, die Freiheitsrechte einzuschränken, doch das darf nicht auf Dauer geschehen. Wir sollten auch verhindern, dass einzelne Bevölkerungsgruppen mit vermeintlich unterschiedlichen gesundheitlichen Risiken gegeneinander ausgespielt werden, zum Beispiel Alte gegen Junge. Es widerspricht auch einer freiheitlichen Gesellschaft, Menschen in bevormundender Weise vor sich selbst schützen zu wollen. Letztlich gibt es ein Recht auf selbstschädigendes Verhalten. Das viele auch ausüben.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Körtner: Denken wir nur an Rauchen, schnelles Autofahren, Risikosportarten, Fett- und Zuckerkonsum: Es gibt Rauchverbote, Vorschriften für Sicherheitsgurte und Tempobeschränkungen oder Kennzeichnungspflichten für Lebensmittel. Im Fall von Corona haben wir noch einige gesundheitspolitische Debatten vor uns. Angenommen, wir haben irgendwann einen Impfstoff: Soll es dann eine Impfpflicht geben?

STANDARD: Wie sehen Sie in die Zukunft?

Körtner: Die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystem wird mehr denn je eine gemeinsame kollektive Anstrengung. Wie gut es funktioniert, welche Therapien finanziert werden können und wie Kranke versorgt werden, wird in den wirtschaftlich harten Zeiten, die uns durch den Lockdown ganz sicher in Zukunft erwarten, zu einer politischen Herausforderung. Letztendlich müssen alle Menschen, die in Österreich leben, mit ihren Steuergeldern für die Kosten dieses Lockdowns aufkommen. Es ist zu hoffen, dass der Diskurs über Weichenstellungen nicht von wenigen Experten, sondern wieder öffentlich und transparent geführt werden wird. (Karin Pollack, 8.5.2020)