In der Corona-Krise war der direkte Kontakt zwischen Menschen stark eingeschränkt. In der Isolation bestellten sich viele Menschen Sex-Toys.

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Die Kontaktsperre ist aufgehoben. Mindestabstand bleibt dennoch das Gebot der Stunde, Berührungen weiterhin tabu. Selbst Dating-Plattformen wie Tinder raten, größere Menschenansammlungen zu meiden, und rufen zur Enthaltsamkeit auf. "Nur gucken, nicht anfassen", heißt es etwa bei der Flirt-App Jaumo. Singles bleibt also nur die Selbstbefriedigung – und Paaren? Beflügelt die Stay-at-home-Langeweile die Libido, oder ist die Angst vor dem Virus, die Sorge um die Finanzen ein absoluter Lustkiller?

Wer gerade wie viel Sex hat und wie die Menschen ihn empfinden, lässt sich schwer messen. Es gibt aber eine Industrie, die momentan starken Umsatz mit der Lust zu machen scheint: die Sextoys.

Wachsende Umsätze

In Italien meldet die Sextoy-Marke We Vibe seit Jahresbeginn ein Umsatzwachstum von 304 Prozent. In Spanien liegt es bei gut 295 Prozent, und für Deutschland, Österreich und die Schweiz gab es immerhin ein Plus von 21 Prozent. Beim Onlineshop Eis.de haben sich die Bestellzahlen seit der Verbreitung von Sars-CoV-2 verdoppelt. Das Krankenschwesterset war zwischendurch ausverkauft. Von den Zuwächsen der Online-Porno-Portale ganz zu schweigen. Aus #StayTheFuckHome machte der Online-Sex-Shop Amorelie daher den Slogan #StayHomeAndFuck.

Dass Paare, die mehr zu Hause sind, auf die Idee kommen, sich sexuell auszuprobieren, ist für den Sexualmediziner Markus Valk nachvollziehbar. Das Gleiche gelte für Singles. Denn mehr Zeit, in manchen Fällen auch Langeweile, mache erfinderisch. "Durch die Ausgangsbeschränkung waren Menschen auf sich selbst oder sich und ihren Partner zurückgeworfen", bestätigt Psycho- und Sexualtherapeutin Sandra Gathmann. Was viele mit der Frage konfrontiere, was sie eigentlich wollen, welche Bedürfnisse sie haben. Einige ihrer Klienten hätten sich für die Zeit daheim sogar konkret vorgenommen, ihr Liebesleben zu intensivieren – manche mit Sextoy, andere ohne.

Mit Hilfsmitteln

Besonders beliebt ist etwa der ferngesteuerte Lush 2. Er ist rosa, hat die Form eines größeren Armreifs und besteht aus weichem Silikon. Einmal in die Vagina eingeführt, kann der Partner oder die Partnerin den Vibrationsrhytmus via App vorgeben. Liebesspiele auf 1,5 Meter Abstand oder in getrennter Quarantäne sind da also kein Problem. Wer will, kann die stimulierenden Vibrationen sogar per Bluetooth mit seinen Lieblingssongs synchronisieren.

Anders als herkömmliche Vibratoren stimuliert er Frauen nicht nur per Penetration, sondern über die Klitoris – genauer gesagt über die Eichel der Klitoris, also jenen kleinen Knubbel, der sich zwischen den inneren Scheidenlippen befindet. Orgasmen seien mit den Geräten besonders intensiv, heißt es bei Amorelie. Der Umsatz mit Toy Cleanern hat sich bei einigen Anbietern ebenfalls nahezu verdoppelt.

Über unser Liebesleben sagen die steigenden Umsätze der Erotikindustrie dennoch wenig aus. Wachstumsraten von bis zu 300 Prozent klingeln zwar enorm, beim Krankenschwesterset sind es sogar um die 3.000 Prozent – allerdings handelt es sich dabei um Prozentwerte. Aussagekräftig sind diese nur, wenn man sie ins Verhältnis setzt. Absolute Zahlen wollen Shop- und Online-Portal-Betreiber jedoch nicht nennen – auch nicht auf Nachfrage. Ob die Schwesternausstattung nun von 3.000 Menschen mehr bestellt wurde oder lediglich von 30, bleibt daher Spekulation.

Nachfrage und Angebot

Möglich ist zudem, dass sich das Geschäft des stationären Handels durch Ausgangssperre und Quarantäne einfach ins Internet verlagert hat oder Menschen, die sich für Pornos interessieren, einfach die Plattform wechseln: Der Onlineanbieter Pornhub bot seinen italienischen Kunden für den März beispielsweise einen kostenlosen Zugang an. Kurze Zeit später stiegen die Besucherzahlen.

Aus der Arbeit mit ihren Klienten und Klientinnen weiß Sexualtherapeutin Gathmann zudem: "Es gibt auch in der Sexualität einen Trend zur Selbstoptimierung – die Idee, das Sexleben mithilfe von Toys aufzupeppen, liegt für viele daher nahe." Sei das Sexspielzeug dann daheim, lasse die Motivation jedoch schnell nach – und das Spielzeug verschwinde in der Schublade.

Das Meinungsforschungsinstitut Yougov hat deshalb die Menschen selbst gefragt, wie es in dieser Ausnahmesituation um ihr Sexualleben steht. Das Ergebnis: Von den mehr als 24.000 Erwachsenen, die in den USA befragt wurden und unter Quarantäne standen, gab einer von acht an (13 Prozent) an, in den vergangenen Wochen mehr Sex mit dem Partner zu haben. Bei den 25- bis 34-Jährigen war es sogar nahezu jeder Vierte (23 Prozent). Hierbei handelt es sich natürlich nur um ein Stimmungsbild.

Selbstwirksamkeit erfahren

Darüber, wie sich die aktuelle Situation langfristig auf das Liebesleben auswirkt, sagen die Zahlen nichts aus. In Deutschland verzeichnet die Erotik-Community Joyclub zudem eine gegenläufige Entwicklung. Von den 1.000 befragten Mitgliedern gaben 38,5 Prozent der Männer an, seit Ausbruch der Corona-Krise weniger oder gar keinen Sex mehr zu haben. Bei den Frauen sind es sogar etwas mehr als die Hälfte (50,5 Prozent). Die Antworten einer einzelnen Community lassen sich zwar nicht auf die Bevölkerung übertragen. Sie zeigen jedoch, wie unterschiedlich sich die derzeitige Lage auf die Menschen und ihre Libido auswirkt.

"Für Menschen, die Sex mit sich selbst oder mit ihrem Partner bereits vor der Krise als positiv erfahren haben, können Sextoys eine zusätzliche Bereicherung sein", sagt Sexualtherapeutin Gathmann. Sex wie auch Selbstbefriedigung erlaubten einen Urlaub vom Ich, das ständig über Corona und all seine Auswirkungen grübelt. Einmal bewusst Abstand nehmen könne guttun.

Dazu kommt: "Durch Berührungen, auch Selbstberührungen, schüttet der Körper das Bindungshormon Oxytocin aus", erklärt Sexualmediziner Valk. Ein Orgasmus sorge durch Dopamin und Endorphine für zusätzliche Entspannung. Sex kann ein Paar daher enger zusammenschweißen, Selbstbefriedigung Singles helfen, fehlende Berührungen zu kompensieren und Stress abzubauen. "In Zeiten von Ausgangsbeschränkung und Kontaktverbot sind Sex und Selbstbefriedigung also eine wichtige Ressource", so Valk. Positiver Nebeneffekt: Wer seine Sexualität aktiv gestaltet, erlebe sich selbst als handelnd, ist also selbstwirksam. Was wiederum helfen kann, mit dem Kontrollverlust umzugehen, den viele in der aktuellen Situation empfinden.

Boom von Sexspielsachen

Überhaupt wird der Gebrauch von Sexspielzeugen in Deutschland als überwiegend positiv empfunden, wie eine Studie der Technischen Universität Ilmenau zeigt. Für die Untersuchung haben die Studienautorinnen 1.723 heterosexuelle Frauen und Männer zu ihrer Verwendung von Sextoys befragt. Mehr als die Hälfte (52 Prozent) der zwischen 18- und 69-Jährigen nutzte Vibratoren, Dildos und Gleitmittel in der Partnerschaft, gut 72 Prozent der Frauen und 31 Prozent der Männer verwendeten sie beim Solosex. Auf die Frage, wie sie den Gebrauch einschätzen, bewerteten die meisten ihn als positiv. Unter Menschen, die homo- oder bisexuell sind, scheinen Sextoys noch stärker verbreitet zu sein und berichten Nutzerinnen und Nutzer ähnliche Zufriedenheitswerte.

Für die Studienautorinnen ist das nur nachvollziehbar. Denn Sexspielzeuge wurden von der Industrie eigens dafür entwickelt, Lust zu bereiten und das sexuelle Wohlbefinden zu steigern. In den letzten Jahren hat sich die Erotikindustrie außerdem stark entwickelt. In Onlineshops wie Amorelie werden Liebeskugeln, Vibratoren mit Fernsteuerung (die auch bei 1,5 Meter Abstand Lust versprechen) sowie Dildos für den Analbereich wie schicke Accessoires präsentiert. Das vermeintliche "Schmuddelding" ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Die Schattenseiten

Es gibt jedoch auch negative Auswirkungen, wie Untersuchungen zeigen: Manche Frauen fühlen sich durch Sexspielzeuge offenbar unter Druck gesetzt, beim Geschlechtsverkehr einen Orgasmus zu bekommen; Männer befürchten, dass sie ihrer Partnerin nicht genügen, fühlen sich also in ihrer Männlichkeit bedroht, zeigt eine andere Studie. In der therapeutischen Arbeit erlebt Gathmann zudem immer wieder, dass Partner oder Partnerinnen Sexspielzeuge eigenmächtig bestellen und sich der andere dadurch überfordert fühlt. Da brauche es dann klare Kommunikation, Betroffene sollten sich trauen, ihre Bedürfnisse und auch Bedenken zu äußern. Für Paare, die offene Gespräche nicht gewohnt sind, ist das in der aktuellen Situation eine besondere Herausforderung. Anders als sonst können sie sich momentan nur schwer aus dem Weg gehen.

"Schwierig wird es zudem, wenn der Wunsch nach mehr Intimität und emotionaler Nähe mit einer Intensivierung von Körperempfindungen verwechselt wird", so Gathmann. "Die Stärke eines Orgasmus sagt nicht unbedingt etwas über die Qualität der Beziehung aus." Wenn die Beziehung bereits vor Corona kriselte oder Sexualität als negativ erfahren wurde, kann das Besorgen von Sexspielzeugen zudem den Erwartungsdruck und damit das Konfliktpotenzial erhöhen.

Angst vor anderen

Dazu kommt: Viele Menschen haben in der jetzigen Situation Angst – um nahe Angehörige, die eigene Gesundheit oder um das finanzielle Überleben. Laut einer Umfrage von Infratest Dimap für den ARD-"Deutschland-Trend" macht sich mittlerweile gut jeder zweite der 1.006 Befragten (55 Prozent) Sorgen, er könne sich anstecken. Vier von zehn fürchten um ihre wirtschaftliche Entwicklung. "Keine Lust auf Sex zu haben ist dann absolut normal", betont Sexualtherapeutin Gathmann. Denn Ängste und Sorgen beeinträchtigen die Libido. "Wenn Stress die Überhand gewinnt, braucht es eher Techniken zur Entspannung als einen Vibrator", so Gathmann. Etwa mittels Atemübungen, einer warmen Badewanne oder einer festen Umarmung durch den Partner oder die Partnerin – sofern vorhanden.

Für Menschen, die unter der aktuellen Situation leiden, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen umfassenden Ratgeber für den psychischen Umgang mit der Pandemie veröffentlicht. Dort heißt es etwa: Man solle den Konsum negativer Nachrichten reduzieren und auf sich achten, indem man gut schläft, gesund isst, die Bewegung nicht vergisst und sich beim Arbeiten Pausen gönnt. Von Alkohol, Zigaretten oder anderen Drogen als Bewältigungsstrategien rät die WHO ab. Menschen, denen es psychisch nicht gut geht, sollten auch in Zeiten der Krise die Hilfe in Anspruch nehmen.

Sex als Medikament

"Wenn Menschen Sex, Pornos oder Selbstbefriedigung als alleiniges 'Medikament' zum Stressabbau benutzen, kann es zu Scham und dem Gefühl von Kontrollverlust kommen", gibt Gathmann zu bedenken. Es fehlen dann oft andere Strategien, um mit Ängsten und Einsamkeit umzugehen. Wem das so gehe, der sollte sich psychologische Hilfe suchen – auch um eventuellen Suchttendenzen vorzubeugen.

Dennoch: Egal ob Paar oder Single, ob mit Sexspielzeug oder ohne – aus sexualtherapeutischer Sicht bietet das "Zuhausehocken" die Chance, seine Sexualität zu erkunden und sich und seine Bedürfnisse besser kennenzulernen. Denn nur Menschen, die wissen, was ihnen gefällt, was sie sexuell erregt, können das dem Partner oder der Partnerin auch kommunizieren. Beim Sex mit sich selbst besteht auch keine Gefahr, sich mit dem Cornoavirus anzustecken. Wenigstens an dieser Stelle können wir also die Angst beiseiteschieben. (Stella-Marie Hombach, 3.5.2020)