Keir Starmer ist neuer Chef der britischen Labour-Partei.

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Knapp vier Monate nach der haushoch verlorenen Unterhauswahl hat die britische Labour-Party einen neuen Vorsitzenden. Wie erwartet tritt der Londoner Menschenrechtsanwalt Keir Starmer die Nachfolge von Jeremy Corbyn an, der nach viereinhalb Amtsjahren zurückgetreten war. In seiner Videobotschaft aus dem Corona-Lockdown lobte der 57-Jährige am Samstag die Bediensteten des Nationalen Gesundheitssystems NHS, unterstrich die Bedeutung des öffentlichen Dienstes allgemein und bot der konservativen Regierung von Premier Boris Johnson konstruktive Zusammenarbeit an: "Wir haben das gleiche Ziel: Menschenleben retten und unser Land schützen."

Kurz vor der per Videoschalte bekanntgegebenen Entscheidung bot Johnson sämtlichen Vorsitzenden der im Unterhaus vertretenen Parteien für kommende Woche ein Informationsgespräch mit Experten an. Der Premierminister ist selbst mit Sars-CoV-2 infiziert und befindet sich seit mehr als einer Woche in Selbstisolation. Starmer sagte Johnson noch am Samstagmittag telefonisch seine Teilnahme zu.

Ende der harten Linken

Womöglich will der Regierungschef den Oppositionsführer auch zu künftigen (Video-)Sitzungen des Krisenstabes Cobra einladen; an diesen nehmen schon bisher gelegentlich die Ministerpräsidenten von Wales (Labour), Schottland (schottische Nationalpartei SNP) und Nordirland (Unionistenpartei DUP/Nationalistenpartei Sinn Féin) teil. Der Eintritt Labours in eine nationale Einheitsregierung gilt hingegen unter politischen Beobachtern in London als wenig wahrscheinlich.

Die Urwahl des zum gemäßigten linken Flügel zählenden Starmer durch 56 Prozent der Mitglieder, registrierten Anhänger und Angehörige Labour-naher Organisationen setzt der Herrschaft der harten Linken ein Ende. Veteran Corbyn war es gelungen, der Partei neue Energie einzuflößen; sie verfügt derzeit über mehr als 550000 Mitglieder und ist damit die grösste politische Gruppierung Westeuropas. Ihr dezidiert sozialdemokratisches Programm schnitt in Wählerbefragungen gut ab, hingegen beurteilten die Briten Corbyn selbst überwältigend negativ. Offenbar trauten sie dem langjährigen Hinterbänkler ohne jede Regierungserfahrung das Amt des Premierministers nicht zu.

Bekämpfung des Antisemitismus

Nachfolger Starmer will viele Ideen aus Labours letztem Wahlprogramm behalten. Dazu gehört die Rückführung von Eisenbahn, Post, Strom- und Wasserversorgern in öffentliches Eigentum, die Erhöhung der Einkommenssteuer für Spitzenverdiener sowie die Abschaffung der Studiengebühren von jährlich 9500 Pfund (10784 Euro/11385 Franken). Als vorrangiges Problem der kommenden Monate nannte er die Bekämpfung des Antisemitismus in seiner Partei, der unter dem langjährigen Israel-Kritiker Corbyn ins Kraut geschossen war. Vor allem aber gelte es, Labours Regierungsfähigkeit wiederherzustellen: "Wir haben vier Wahlen in Folge verloren. Wir müssen das Vertrauen in unsere Partei zurückgewinnen."

Der Sohn eines Werkzeugmachers und einer Krankenschwester, benannt nach dem ersten Labour-Chef Keir Hardie, arbeitete nach dem Jurastudium lange Jahre als Menschenrechtsanwalt und bewahrte dabei Dutzende von Verurteilten in früheren britischen Kolonien vor der Todesstrafe. Anschließend diente er fünf Jahre als Leiter der Staatsanwaltschaft von England und Wales, wofür ihn Königin Elizabeth II 2014 zum Ritter (Sir Keir) schlug. Ein Jahr später wurde er für den Nord-Londoner Wahlkreis Holborn&St Pancras ins Unterhaus gewählt. Als Brexit-Sprecher hat sich der überzeugte Europafreund den Ruf eines kenntnisreichen und stets glänzend vorbereiteten Parlamentariers erworben.

Der ehemalige Menschenrechtsanwalt Starmer setzte sich gegen seine Konkurrentinnen Rebecca Long-Bailey und Lisa Nandy durch. (Sebastian Borger, 4.4.2020)