Auf Facebook und Twitter kursiert derzeit ein Cartoon über die aktuelle Krise. Er handelt davon, wie viel Zeit wir damit verbringen, auf exponentiell wachsende Kurven zu starren. Zur Illustration dieser Frage ist eine seit Februar exponentiell wachsende Kurve zu sehen. Wir starren also exponentiell mehr auf exponentielle Kurven.

Seit Ausbruch der Pandemie hat sich die Gefahr, die von einem zu schnellen Anstieg der Zahl der mit dem neuartigen Coronavirus erkrankten Menschen ausgeht, tief in unser Bewusstsein gebrannt. Exponentielles Wachstum ist deshalb so gefährlich, weil die Kurve mit den Erkrankten sich lange Zeit scheinbar kaum verändert, dann aber explodiert. Das Risiko dabei ist, dass unser Gesundheitssystem aufgrund der hohen Zahl an Betroffenen kollabiert.

Je länger der Shutdown dauert, desto stärker wird auch sichtbar, dass im Wirtschaftskreislauf ein ähnlicher Mechanismus zu wirken beginnt. Der wirtschaftliche Stillstand frisst sich immer tiefer ins System hinein und droht einen Schaden anzurichten, dessen Umfang größer und größer wird. Es geht nicht direkt um Menschenleben, wohl aber um Existenzen.

Die Kette der Übertragung beginnt so: Unternehmen brechen die Umsätze weg, weil Kunden fernbleiben. Nicht alle, aber zumindest Betriebe ohne Geldreserven kommen in Schwierigkeiten, ihre Kredite abzuzahlen.

Ein Hotel als Wirtschaftsmotor

Bereits losgegangen ist das im Tourismus und in der Gastronomie, und die schlechte Nachricht lautet: Sogar wenn der Stillstand für längere Zeit nur auf diesen Wirtschaftszweig beschränkt bleibt, kommt einiges zu auf Österreich, jedenfalls genug, um den Finanzsektor gleich mit anzustecken. Weil Erzählungen ohne Gesichter abstrakt bleiben, wollen wir dieser Geschichte eines geben: Michael Appel.

Der junge Unternehmer ist Eigentümer des Appelhofs, eines Kinderhotels im steirischen Mürzsteg. Als die Corona-Krise Mitte März Österreich voll trifft, beginnt es Stornos im Betrieb von Michael Appel zu hageln. "Es ist ein Desaster", sagt er. Binnen weniger Tage hat er Stornierungen in Höhe von 800.000 Euro, bis in den August hinein sagen ihm Urlauber ab.

Für die kleine steirische Gemeinde ist das Hotel mit seinen 500 Betten der Wirtschaftsmotor. Nicht nur, weil der Appelhof 80 Mitarbeiter aus der Region und aus osteuropäischen Nachbarstaaten beschäftigt. Das Hotel im Mürztal ist der wichtigste Kunde für den Greißler im Ort und den Bäcker sowie für diverse Großlieferanten in der Umgebung. Der Appelhof ist Miteigentümer des Skilifts in der Region – samt Skischule und Gasthaus. Die lokalen Banken finanzieren den Betrieb und verdienen an Touristen mit – dazu noch später. Selbst der Tierarzt im Ort lebt vom Hotel, das einen Streichelzoo besitzt. Nun droht die komplette Sommersaison, das Hauptgeschäft, auszufallen.

Die Touristen handeln nicht unvernünftig. Aktuell steht ein großer Teil des Wirtschaftslebens still, Hotelbetriebe sind gesperrt. Selbst wenn der Handel nach und nach aufsperrt, wie die Regierung ankündigt, ist es gut möglich, dass die Hotellerie erst am Ende kommt. Und sogar wenn es früher passiert: Wann werden Menschen wieder Lust haben, gemeinsam im Frühstücksraum zu essen, im Wellnessbereich zu entspannen? Diese Gedanken gehen Michael Appel durch den Kopf, während er seinen Betrieb runtergefahren hat.

Der Handel dürfte Schritt für Schritt wieder aufsperren. Die Freizeitkontakte werden wohl noch länger beschränkt bleiben. Was bedeutet das für die Gastronomie?
Foto: Regina Hendrich

Das Problem: Auf null kommt er bei den Kosten nicht. Heizen, Streichelzoo, Pacht. Gut 10.000 Euro im Monat kostet ihn das. Noch hat er Reserven. Doch er hat seine Bankberater angerufen und schon vereinbart, dass er seine Kredite später zurückzahlt. Zwei Millionen Euro an Bankverbindlichkeiten hat der Appelhof aus vergangenen Investitionen. Die Zahlungen liegen nun für sechs Monate auf Eis.

Immer mehr Betriebe melden sich

Ein paar Kilometer Luftlinie entfernt sitzt der Geschäftsleiter einer jener lokalen steirischen Banken, bei der auch der Appelhof verschuldet ist. Der Banker erzählt von den vergangenen Tagen, bittet aber um Anonymität. Immer mehr Betriebe melden sich und ersuchen um Kreditstundungen. Besonders Cafés, Gasthäuser und Hotels, sagt er. "In diesem Teil der Steiermark ist die Lage sogar noch besser, weil es hier viele Industriebetriebe gibt, die traditionell mehr Reserven haben." Doch auch Industriebetriebe melden sich schon. "Was hier geschieht, so flächendeckend, das kennen wir nicht", fügt der steirische Banker hinzu. "Wir geben unser Bestes, wir wollen unsere Kunden, so gut es geht, durch diese schwierige Zeit tragen."

Das ist der zweite Teil der Erzählung über die exponentiell wachsende Wirtschaftskrise: Irgendwann, wenn die Turbulenzen lange genug dauern, beginnt in den Bilanzen der Banken die Zahl der problematischen Kredite zu steigen.

Der Tourismus und die Gastronomie sind eine Art Achillesferse für die Institute. Von Bregenz bis Eisenstadt gilt: Wer neue Küchengeräte braucht oder seinen Wellnessbereich erneuert, wendet sich an die regionale Bank für ein Darlehen. Gerade im Tourismus muss regelmäßig investiert werden.

Größere Betriebe wie der Appelhof sind im Vergleich besser aufgestellt, weil sie etwas Geld auf der hohen Kante haben. Laut der privaten KMU-Forschung Austria ist das oft nicht der Fall: Fast jeder zweite Beherbergungsbetrieb im Land und immerhin 40 Prozent der Gasthäuser haben ein negatives Eigenkapital. Die Schulden des Betriebs bei der Bank übersteigen also die eigenen Vermögenswerte, und zwar oft deutlich. Tausende Unternehmen leben von der Hand in den Mund, wenn man so will. Sie finanzieren sich vor allem über Bankkredite und einige Vorleistungen der Lieferanten.

Der Witz der Banker

Aus dem laufenden Geschäft zahlen sie Mitarbeiter, das Darlehen, die Zulieferer und behalten sich etwas selbst ein. Das funktioniert, solange Geld fließt. Selbst in normalen Zeiten gibt es Probleme. "Erst nach dem zweiten Konkurs kann man ein Hotel gut führen", lautet ein alter Bankerwitz. Aber was, wenn das Geschäft ganz stillsteht?

Was kommt auf die Banken zu? "Wenn der Shutdown ein bis zwei Monate dauert, wird man irgendwie durchkommen. Wenn es länger wird und auch die Sommersaison verloren gehen sollte, wird es bitter. Dann droht eine Krise durch faule Kredite im Bankensektor", sagt Stefan Selden. Er ist Bankenberater von 720° Restructuring & Advisory und auf Umschuldungen bei Unternehmen spezialisiert.

Die Gäste bleiben aus, Schönbrunn hat geschlossen. Wie lange? Das könnte auch für Österreichs Wirtschaft zu einer entscheidenden Frage werden.
Foto: Regina Hendrich

Für viele Tourismusbetriebe sei es eine knappe Rechnung: Wenn der Betrieb ein Darlehen nimmt, um Zimmer zu renovieren oder eine Küche zu erneuern, zahlt er dieses in einer fixen Zeit ab und muss dann reinvestieren, um die Abnutzung zu ersetzen. "Geht nur eine Saison verloren, wird vielen Unternehmen das Geld fehlen, die Kredite zurückzuzahlen", sagt Selden. Da helfen auch Stundungen und Garantien des Staates für Notkredite nicht: Wenn die Einnahmen nicht reichen, geht das Cash aus. Betroffen seien davon weniger die großen Bankenzentralen als die vielen lokalen Kleinbanken in Österreich. Ihre Bilanzen sind oft weniger gut aufgeschlüsselt, weshalb es meist gar nicht ersichtlich ist, wie sehr die regionalen Institute in den Tourismussektor investiert haben.

An dieser Stelle dreht sich das Krisenrad weiter. Wer Probleme hat, seine Kreditraten zu bezahlen, kann gar nicht investieren. Der Appelhof wollte im Frühling den Pool erneuern – das ist abgesagt. Das werden Handwerker und Baufirmen spüren.

Die Krise trifft den Konsum

Gut 100 Kilometer weiter, in Wien, macht sich über diese Entwicklung Christian Helmenstein, Chefökonom der Industriellenvereinigung, Gedanken. Die Krise hat mit einer Rezession bei Dienstleistern begonnen und weitet sich aus. Gut 200.000 Arbeitnehmer haben schon ihren Job verloren, und 250.000 Menschen gehen in Kurzarbeit. Dazu werden noch mehr kommen, weil, wie geschildert, Aufträge jetzt nach und nach wegfallen. Wer arbeitslos ist oder in Kurzarbeit geht, verdient weniger und kann weniger ausgeben für Autos, Möbel, Spielzeug, Elektronik.

All das sind Einzelfälle, doch gemeinsam können sie eine Volkswirtschaft infizieren. Helmenstein und seine Kollegen erwarten, dass der Konsum heuer einen nachhaltigen Dämpfer bekommt und sich erst 2021 erholt. Das Krisenrad dreht sich weiter und greift auf die Industrie über: Abseits der Autobauer wird dort noch produziert. Die Industrie kann traditionell Auftragsschwankungen besser über den Abbau von Urlaub und Zeitguthaben ausgleichen. Als Erstes werden Lager geleert, weshalb Produktionsrückgänge nicht gleich bemerkt werden.

Doch mit der Zeit, sagt Helmenstein, werde die Krise von den Dienstleistern, den Tourismusbetrieben, Gasthäusern, Baufirmen, Händlern und Handwerkern auf die Industrie übergreifen. Auch dort wird mehr Kurzarbeit angefragt werden. Die Investitionen werden zurückgehen. Wann die Normalität zurückkehrt, ist ja offen.

Österreich besonders abhängig

Natürlich gibt es auch Hoffnungsschimmer: Der Staat versucht nicht nur mit Bankgarantien zu helfen, ein Teil der Kredite wird so ausgestaltet werden, dass sie nicht rückzahlbar sind. Es gibt erste Erfolge im Kampf gegen Corona, vielleicht ist der Spuk schneller vorbei als gedacht. Ein wirksames Medikament könnte entdeckt werden. Derzeit sind alles Momentaufnahmen. Aber diese bieten Grund zur Sorge, und zwar eben allein ob des Tourismus.

Die Deutsche Bank hat diese Woche eine Analyse veröffentlicht, in der sie beschreibt, dass vor allem Länder, die stark vom Tourismus abhängig sind, tief von der Krise getroffen werden. Österreich gehört zu den meistbetroffenen Ländern Europas: Rechnet man den Reiseverkehr und die gesamte Freizeitindustrie ein, entfallen fast 15 Prozent der heimischen Wirtschaft auf Tourismus. Nur in Griechenland und Portugal ist dieser Wert noch höher.

Sogar wenn manche heimischen Gäste wieder im Sommer verreisen: Was ist mit den Deutschen, Italienern, Russen, Chinesen und Amerikanern? 73 Prozent der 152 Millionen Übernachtungen im vergangenen Jahr entfielen auf ausländische Gäste. Es ist ungewiss, ob sie heuer wiederkommen. (András Szigetvari, 4.4.2020)