Reuters beschreibt, "wie Europa schlafwandlerisch in die Corona-Krise geriet".

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Wann immer es in Europa schlechte Nachrichten gibt, finden manche Regierungschefs rasch einen Schuldigen: die EU-Institutionen in Brüssel, die versagt haben sollen. Auch in der Corona-Krise wird dieses politische Spiel gerne angewendet. So hat Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) erst am Sonntag in einem Interview mit der "Kronen Zeitung" erklärt, dass die EU sich "eine kritische Diskussion und Auseinandersetzung damit gefallen lassen müssen" werde. Es könne nicht sein, "dass wir zwei Wochen lang komplett auf uns alleingestellt darum kämpfen müssen, dass ein Lkw mit bereits von uns bezahlten und dringend benötigten Schutzmasken an der deutschen Grenze hängt, weiterfahren darf und gleichzeitig unsere Kontrollen zu Italien kritisiert werden".

Nun hat die Nachrichtenagentur Reuters enthüllt, dass die EU-Kommission den Mitgliedsstaaten bereits Ende Jänner, einen Monat bevor die Virusinfektionen EU-weit eskalierten, Hilfe bei der gemeinsamen Beschaffung von Schutzmasken, Testkits und Beatmungsgeräten angeboten habe. Dies sei von Regierungsvertretern der Gesundheitsministerien –für Österreich waren Beamte von Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) anwesend, der selbst in der Folge an drei Ministerratssitzungen teilnahm – bei einschlägigen Sitzungen in Brüssel aber explizit abgelehnt worden. "Alles unter Kontrolle", notierte ein Beamter am 5. Februar die Aussagen der nationalen Delegierten in einer vertraulichen Sitzung in den Protokollen, die Reuters einsehen konnte, "die Mitgliedsstaaten sind auf hohem Niveau vorbereitet, die meisten haben Maßnahmen gesetzt".

Zu der Zeit waren in der chinesischen Provinz Hubei bereits 60 Millionen Menschen isoliert. Zwei Wochen später wurden in Italien die ersten Corona-Fälle öffentlich. Dann nahm die Kommission eine Bedarfserhebung vor. Es stellte sich heraus, dass die Staaten zehnmal so viel Schutzmaterial brauchen würden als sie hatten. Unter dem Tiel "Wie Europa schlafwandlerisch in die Corona-Krise geriet" kommt man zum Schluss, dass die Staaten die Krise verschlimmert hätten, weil sie ihre eigenen Möglichkeiten zur Bekämpfung des Virus völlig überschätzten.

Regierungen im Alleingang

Erst ab März begannen die Regierungen in den EU-Ländern gemäß den Aufzeichnungen langsam zu begreifen, wie gravierend das Corona-Problem für alle sei. Aber anstatt gemeinsame Aktionen zu setzen, ergriffen sie Maßnahmen zum Schließen beziehungsweise Kontrollieren der Binnengrenzen, was den Export von medizinischem Material erschwerte. Die Regierungen versuchten im Alleingang, sich auf den Weltmärkten mit Schutzmaterial einzudecken, auch Österreich.

Anfang Jänner, als die Kommission erstmals Unterstützung und gemeinsames Vorgehen anbot, wäre das noch leichter gegangen. Aber gemäß den Protokollen aus Sitzungen mit nationalen Gesundheitsexperten, die mehrfach nach Brüssel gereist waren, wurde das zunächst nicht gewünscht: "Kein Land hat bis jetzt um Unterstützung bei zusätzlichen Gegenmaßnahmen gebeten", ist vermerkt. Nur vier nicht genannte Länder hätten darauf hingewiesen, dass es bei einer Verschlechterung der Lage Probleme mit Schutzmaterial geben könnte. Seit Jänner gab es auch drei Sitzungen der Gesundheitsminister in Brüssel.

Am 28. Februar mahnte die Kommission die Regierungen, ihren Bedarf zu melden, und nahm ein gemeinsames Anschaffungsprogramm für Schutzmaterial in Angriff. Aber es kam, weil zu bürokratisch, nicht richtig in Gang. In der Zwischenzeit stellte sich auch heraus, dass auch die medizinischen Kapazitäten in besonders betroffenen Gebieten nicht ausreichen könnten, obwohl die Regierungen bis dahin beteuert hatten, gut vorbereitet zu sein. Gemäß der jüngsten Risikobewertung der EU könnte der Fall eintreten, dass alle Mitgliedsstaaten Mitte April über nicht genügend Intensivbetten zur Behandlung von Corona-Patienten verfügen, schreibt Reuters. (Thomas Mayer aus Brüssel, 2.4.2020)