An manchen Wiener Häusern und Straßenecken sind sie noch zu sehen: Straßentafeln und Hausnummernschilder, auf denen in schwarzer Fraktur die Straßennamen und Hausnummern angebracht sind. Die Ränder der Schilder unterscheiden sich in den Innenstadtbezirken in der Farbe: Rot im ersten Bezirk, Violett im zweiten, Grün im dritten, Rosa im vierten, Schwarz im fünften, Gelb im sechsten, Blau im siebenten, Grau im achten, Braun im neunten. Die Bezirke ab zehn bekamen ein einheitliches Rot verpasst, so viele verschiedene leicht unterscheidbare Farben gab es dann doch wieder nicht.

Die gelbe Umrandung verrät: Es handelt sich um ein Haus des 6. Wiener Gemeindebezirks.
Foto: Anton Tantner

Wien-Geschichte-Freaks wissen auch, warum sich die Form der Schilder unterscheidet: In Radialstraßen (also Längsgassen, die auf den als Zentrum bestimmten Stephansdom sich ausrichten) waren die Schilder rechteckig, in Querstraßen oval ausgeführt.

Orientierung durch Rechteck und Oval: Hier trifft Radialstraße (Marokkaner-Gasse) auf Querstraße (Ölzeltgasse). Die grüne Umrandung zeigt den 3. Bezirk an.
Foto: Anton Tantner

Von Mähren über Budapest nach Wien

Der Fabrikant hinter diesen Schildern ist weitgehend in Vergessenheit geraten, dabei handelte es sich bei ihm um einen bedeutenden Industriellen des 19. Jahrhunderts: Michael Winkler, geboren am 17. Juli 1822 (so die Angabe auf seinem Grabstein, die sich allerdings bislang nicht durch Geburtsmatriken verifizieren ließ) im mährischen Místek, wuchs in einer jüdischen Familie als Sohn des Kaufmanns Israel Winkler und von Theresia (Rösel), geborene Lewyn, in Proßnitz (Prostějov, Tschechische Republik) auf. Über seine Jugend und Ausbildung ist nichts bekannt, gesichert ist, dass er im Dezember 1848 in Pest Karoline (Lina) Knap heiratete und zu dieser Zeit als Schildermaler tätig war.

In den folgenden Jahren entwickelte Winkler ein als "Schilder-Oeldruck" bezeichnetes Verfahren, mit dem maschinell beschriftete Schilder hergestellt werden konnten. Seine Fabrik produzierte mittels Metallguss Orts- und Straßentafeln, Meilenzeiger, Hausnummern und sonstige Schilder für Versicherungs- und Eisenbahngesellschaften sowie öffentliche Einrichtungen, spätestens 1854 konnte eine Filiale in Wien eröffnet werden. Mit diesen Produkten war Winkler auf diversen Weltausstellungen präsent, so unter anderem 1855 in Paris, 1862 in London, 1873 in Wien und 1876 in Philadelphia.

100.000 Schilder im Jahr

Nachdem Winklers Fabrik 1856 circa 1.000 Zinktafeln mit Straßennamen für Pest produziert hatte, übersiedelten die Familie wie auch die Fabrik nach Wien, wo 1858 die Eintragung ins Firmenbuch unter der Adresse Millergasse 583/584 (Orientierungsnummer 42–44) erfolgte. 1859 lieferte Winkler 58.000 Hausnummerntafeln und 2.000 Ortstafeln für den Prager Kreis, es folgten Aufträge für Gemeinden in Ungarn, Böhmen, Galizien, Deutschland, Frankreich und Belgien.

Für Wien von besonders großer Bedeutung war die ab 1862 erfolgte Produktion von nicht weniger als 12.000 Hausnummernschildern sowie circa 3.000 Straßentafeln für die Haupt- und Residenzstadt. Das neue System der Orientierungsnummerierung führte erstmals in Wien die gassenweise, wechselseitige Hausnummerierung ein, die das seit 1770 in Gebrauch befindliche System der Konskriptionsnummern ablöste. Als Abschluss publizierte Winkler einen Orientierungsplan, eine Prachtausführung davon wurde im Februar 1863 bei einer Audienz Kaiser Franz Joseph überreicht. Die damals angebrachten Straßenschilder blieben bis 1923 in Verwendung, als sie durch die uns heute vertrauten blauen Emailschilder abgelöst wurden. Die Hausnummernschilder wurden ab 1958 ausgetauscht.

Zur Zeit der Wiener Weltausstellung 1873 beschäftigte die nunmehr in der Mariahilfer Straße 117 angesiedelte Fabrik 50 Arbeiter und konnte jährlich 100.000 Schilder herstellen.

Foto: Wienbibliothek im Rathaus, Druckschriftensammlung, A-7461

Aktiv für das jüdische Vereinsleben

Ab den 1860er-Jahren war Winkler Vorstandsmitglied des Israelitischen Tempel-Vereines für Mariahilf und Neubau und engagierte sich intensiv für die 1883/84 erfolgte Errichtung von dessen Vereinssynagoge in der Schmalzhofgasse. Ein Chronist beschrieb ihn als "das stürmende, vorwärts strebende Element in dem damaligen auch von conservativen Anschauungen durchtränkten Vorstande" und lobte seine "Zähigkeit und Energie". Des Weiteren wirkte Winkler als Vorstandsmitglied des 1868 gegründeten israelitischen Humanitätsvereins für die westlichen Bezirke Wiens namens "Nachlat Jeschurun", 1885 bis 1893 war er dessen Präsident; als Proponent initiierte er die 1880 erfolgte Gründung des Israelitischen Frauenwohltätigkeitsvereins für die Bezirke Mariahilf und Neubau.

Winklers Tod und der Fortbestand der Fabrik

Zu seinem im Juli 1892 gefeierten 70. Geburtstag galt der Fabrikant als "eine in weiteren Teilen der Wiener Gesellschaft bekannte und geachtete Persönlichkeit"; kein Jahr später, am 20. April 1893, starb er und wurde im jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs begraben.

Winklers Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof (Detail).
Foto: Anton Tantner

Die Leitung der "Mich. Winkler & Sohn" benannten Firma übernahmen fortan seine Gattin sowie Sohn Jakob (Jacques). Deren Standort befand sich seit 1876 in der Mariahilfer Straße 118, spätestens 1895 übersiedelte die Fabrik in den 15. Wiener Gemeindebezirk in die Löhrgasse 17. Nach dem Tod von Jakob Winkler 1936 wurde dessen Tochter Karoline Winkler zur Eigentümerin des Unternehmens, wobei derzeit noch unklar ist, in welcher Form dieses während der NS-Herrschaft weiterbestand. Gesichert ist, dass die Fabrik von den Nachkommen Winklers 1953 an Friedrich Foit verkauft wurde und unter der Bezeichnung "Friedrich Foit vormals Mich. Winkler & Sohn" weiter Hausnummern-, Straßen- und Ortsschilder insbesondere für österreichische Gemeinden außerhalb Wiens produzierte und am Bau von Wiener U-Bahn-Stationen beteiligt war. Die Löschung aus dem Firmenbuch erfolgte erst 2001.

Kantoren und Pianisten als Familienangehörige

Von Winklers Verwandtschaft sollte noch sein Bruder Salomon (1817–1883) eine gewisse Bekanntschaft erlangen. Dieser war als Kantor in Gleiwitz (Gliwice, Polen) tätig, seine Familiendokumente befinden sich im Jüdischen Museum Berlin. Salomons Sohn Leopold (1869–1924) wiederum studierte am Wiener Konservatorium und wanderte in die USA aus, wo er als Pianist und Klavierlehrer tätig war und in Brooklyn als Direktor des Conservatory of Musical Art wirkte. (Anton Tantner, 6.4.2020)