Noch scheinen die Zahlen in Afrika keine Aufregung zu rechtfertigen. In den 46 Staaten des Kontinents haben sich erst gut 4.900 Menschen angesteckt, gegenüber den Raten in Europa und den USA ein Klacks. Der erfreuliche Umstand ist allerdings nur der relativen Abschottung des Kontinents zu verdanken, geben Epidemiologen zu verstehen: Die Explosion der Pandemie stehe hier erst noch bevor. Tatsächlich steigt die Kurve der Ansteckungen etwa in Südafrika derzeit noch schneller an als zum vergleichbaren Zeitpunkt in Italien: Schon wurden aus Kayelitsha, einem Kapstädter Slum, die ersten Infizierten gemeldet. In wenigen Wochen könnten hunderttausende Südafrikaner angesteckt sein, rechnen Fachleute aus: Innerhalb eines Jahres sogar 35 Millionen.

Kommt es tatsächlich dazu, wird die Katastrophe in den Ländern südlich der Sahara alle anderen Corona-Dramen der Welt in den Schatten stellen. Afrikas Gesundheitsversorgung ist nicht zu Unrecht berüchtigt: In Ruinenstaaten wie dem Südsudan gibt es gerade 50 Betten auf Intensivstationen. Selbst in Südafrika, dem medizinisch bestausgestatteten Staat des Kontinents, stehen lediglich 5.000 Betten auf Intensivstationen zur Verfügung, bei einer Bevölkerung von 57 Millionen.

Notbremse in Südafrika

Angestoßen von der Weltgesundheitsorganisation WHO sah sich Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa zum schnellen Gebrauch der Notbremse gezwungen: Er verhängte Ende vergangener Woche eine beispiellos radikale Ausgangssperre über das Kap. Drei Wochen lang dürfen die Südafrikaner nur noch zum Einkauf von Lebensmitteln oder Medikamenten aus dem Haus, sämtliche anderen Geschäfte, Restaurants, Bars, Ämter und sogar Parks bleiben geschlossen. Im Übereifer wurde selbst der Verkauf von Alkohol und Zigaretten untersagt.

Mit seinem schnellen Entschluss hat sich Ramaphosa weltweites Lob eingeheimst: Der erste Staatschef, der sich bereits in einem derartig frühen Stadium der Pandemie zu einem derart radikalen Schritt durchrang. Wenn alles gutgeht, wird die Kurve der Neuansteckungen spätestens in drei Wochen abflachen: Die Katastrophe wäre vermieden. Dass alles gutgeht, ist allerdings eher unwahrscheinlich: Zu viele Faktoren sprechen gegen einen durchschlagenden Erfolg des Lockdowns.

Unmögliche Einschränkungen

Einerseits, weil Ausgangssperren unter Armutsbedingungen, etwa dem Leben in Slums, zum Scheitern verurteilt sind. Keiner kann einer achtköpfigen Familie zumuten, sich drei Wochen lang in zwei kleine Räume einzusperren – sie kann sich auch nicht mit Lebensmitteln eindecken, weil ihr dazu das Geld fehlt. Viele können sich nicht einmal alle zwei Stunden die Hände waschen, weil sie über kein fließendes Wasser verfügen.

Und schließlich werden die Brötchengeber, die in den meisten Fällen höchstens Gelegenheitsjobs nachgehen, für nicht gearbeitete Tage auch nicht bezahlt. Hunderte oder gar Tausende von Kleinunternehmen wird der Lockdown allein in Südafrika ausradieren, sagen Wirtschaftsanalysten voraus: Das Land wird in eine tiefe Rezession stürzten, von der sich seine ohnehin labile Wirtschaft noch viele Jahre lang nicht erholen wird. Falls der dreiwöchige Lockdown dem Virus tatsächlich seinen Elan bricht, ein womöglich würdiger Preis. Doch wenn nicht? Dennoch folgen derzeit zahlreiche afrikanische Staaten dem Kap: Auch Namibia, Ruanda, Simbabwe, Tunesien, Kenia und Nigeria haben strenge Ausgangssperren über ihr Land verhängt.

Ende des wirtschaftlichen Aufstiegs

Voraussichtlich werden sie von den wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns noch härter als das südafrikanische Schwellenland getroffen: In den ärmsten unter ihnen könnten sogar Hungersnöte ausbrechen, sagen Experten voraus. Kritiker der Ausgangssperren meinen, die Rosskur könne schließlich noch mehr Menschen zum Verhängnis werden als das Virus selbst: Eine Spekulation, die wohl nie beantwortet werden kann. Fest steht jedoch, dass Afrikas vielgepriesener Aufstieg zumindest um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurückgeworfen wird.

Nicht nur im Scherz sprechen viele Afrikaner derzeit vom "europäischen" statt vom "chinesischen" Virus: Zu ihnen war der Erreger schließlich nicht aus China, sondern aus Europa gekommen – ein weiterer Fluch, den die bleichen Erdbewohner über ihren Kontinent brachten. Das Ressentiment ist in diesem Fall natürlich unangebracht: Anders als Sklaverei und Kolonialismus hat kein Europäer das Virus absichtlich nach Afrika geschleppt.

Sollte in Europa jetzt allerdings die Tendenz siegen, sich angesichts des globalen Unheils einzuigeln und den Teil der Welt alleinzulassen, den man mit dem Erreger konfrontierte, dann wären die Ressentiments zweifellos berechtigt. Die Konsequenz des viralen Fallouts kann nur sein, dass die Weltgemeinschaft zusammenrückt und gemeinsam für den Schaden aufkommt. Alles andere käme dem ersten Völkerverbrechen dieses Jahrhunderts gleich. (Johannes Dieterich aus Johannesburg, 31.3.2020)