"Ist sie das Medium eines dämonischen Magiers? Oder das Werk eines genialen Erfinders? Geschmiedet im heiligen Feuer? Ihre Entdeckung ist eine Sensation, sie ist der Schlüssel zu einer verschwunden Welt. Doch die Forscher stehen vor einem Rätsel: War sie Beutegut machtbesessener Kriegsherren? Oder Zeichen des Friedens einer bisher unbekannten Kultur mitten im Herzen Europas?"

Mit diesen einleitenden Worten der ZDF-Doku "Der Jahrtausendfund von Nebra" dröhnt eine mysteriös klingende Männerstimme aus den Boxen. Es geht um die Himmelsscheibe von Nebra. Einen Fund, der tatsächlich mehr Fragen aufwirft, als die Archäologie beantworten kann. Aber welcher Teil unserer Fantasie wird angeregt, wenn eine Dokumentation mit Fragen beginnt, die seriöse Forschungen gar nicht beantworten können? Alles wird begleitet mit Schauspielszenen, in denen Männer mit angeklebten Bärten Dinge tun, die sich wissenschaftlich nicht belegen lassen. Die Frage, ob die Nebrascheibe Beutegut gewesen ist oder ein Friedenssymbol, lässt sich archäologisch nämlich genauso wenig beantworten wie die Frage, ob ein dämonischer Magier sie verwendet hat. Es handelt sich bei solchen Darstellungen um reine Fiktion, um Interpretationen eines Fundes. Aber wie kommt eine Interpretation eigentlich zustande?

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Die Nebrascheibe – Medium eines dämonischen Magiers?
Foto: AP/Markus Schreiber

Immer neue Daten

Archäologen arbeiten mit den Überresten vergangener Zeiten. Dabei handelt es sich zum Beispiel um Gegenstände oder Knochen. Das, was sich mithilfe dieser Fundstücke untersuchen lässt, ist begrenzt. Eine gute Interpretation bezieht deswegen immer möglichst viele bekannte Punkte ein. Sie muss allerdings nicht richtig sein. Davon betroffen sind beispielsweise Freilichtmuseen. Denn diese zeigen teils Gebäude, von denen wir nur Grundrisse kennen, die sich als Bodenverfärbung erhalten haben. In so einem Fall wird das archäologisch Bekannte mit dem physikalisch Möglichen kombiniert. In diesem Rahmen stellen sich zum Beispiel folgende Fragen: Wie schwer war das Dach? Wie hoch waren die Wände? Gab es Fenster? Was im Freilichtmuseum letztendlich zu sehen ist, sind großteils Interpretationen.

Hinzu kommt, dass der Forschungsstand sich verändert und somit auch die Daten, auf denen das physikalisch Mögliche basiert. Ein Beispiel dafür ist das Freilichtmuseum Groß Raden. Hier gab es 2009 Renovierungsarbeiten. In der Zeit zwischen der Errichtung des Museums und der Renovierung hat es aber neue Erkenntnisse gegeben. Daher wurden nicht einfach nur marode Hölzer ersetzt, sondern beispielsweise das Eingangstor einer hölzernen Burganlage nach neuen Erkenntnissen neu aufgebaut. Ein Schicksal, das jeden archäologischen Forschungsstand betreffen kann. Gerade weil die technischen Möglichkeiten in der Archäologie eine rasante Entwicklung durchleben. Im Grunde genommen ist also vieles von dem, was wir als gegebene Wahrheit über die Menschheitsgeschichte ansehen, eine Frage der Interpretation, und diese basiert wiederum darauf, wie wir als Archäologen und Forscher das Hier und Heute wahrnehmen.

Das Tunneltor der Burg, das in Groß Raden neu nachgebaut wurde – eine Darstellung nach aktuellem wissenschaftlichem Stand.
Foto: Wolfgang Sauber/Wikicommons (cc 4.0); https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Freilichtmuseum_Gro%C3%9F_Raden_Ringburg_2b_Torbau.jpg

Informationssammelsurium

Es ist, als hätte jeder von uns eine Collage im Kopf. Eine Kombination aus den Dingen, die man über die Vergangenheit weiß oder zu wissen glaubt. Ein Informationssammelsurium aus Fernsehdokumentationen, Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften, Erzählungen der Großeltern, eventuell sogar Serien oder Filmen wie jenen von Disney, Onlinemedien, Museumsbesuchen und dem Schulunterricht. Letzterer ist besonders glaubwürdig bei der Vermittlung historischer Zusammenhänge, sollte man meinen. Doch in Bezug auf die Vorgeschichte verändert sich der Inhalt dieses Unterrichts genauso wie der Forschungsstand.

Auch Filme und Serien wie "Game of Thrones" beeinflussen unser persönliches Geschichtsbild – Fantasy-Elemente ausgenommen.
Foto: hbo

Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich des Schweizer Archäologen Werner E. Stöckli, der sich die Karten aus Putzgers Weltatlas angesehen hat, einem Atlanten, der im Schulunterricht häufig Verwendung findet. Vergleicht man hier die Ausdehnungen, die als Lebensraum der Germanen gezeigt werden, verschiebt sich dieser um teilweise bis zu 400 Kilometer. Je nachdem, in welchem Jahr man also zur Schule gegangen ist, wurde ein anderer Sachverhalt vermittelt. Abgesehen davon, dass sich, wie oben beschrieben, der Forschungsstand in der Archäologie ständig ändert, wird eine solche Karte in der Fachwelt auch immer umstritten sein. Und das hat zur Folge, dass jede Schülergeneration mit einem anderen Geschichtsbild im Kopf aufwächst.

Zwei Verbreitungsgebiete der Germanen aus Putzgers Weltatlas im Vergleich. In Rot ist die Verbreitung auf der Karte von 1936 dargestellt, Blau zeigt die Karte aus der Atlasausgabe von 1961.
Foto: Werner E. Stöckli

Fakt und Interpretation

Wenn also viel von dem, was wir als Wahrheit über vergangene Kulturen annehmen, mehr Interpretation ist als Realität, was bleibt dann als Fakt übrig? Können wir wirklich mehr über die Vergangenheit sagen, als uns Radiokarbondatierungen, Bodenverfärbungen und Keramik verraten? Tatsächlich bleibt das Fach Archäologie unglaublich interessant, wenn einem klar wird, wie viele der Zusammenhänge gut oder schlecht belegte Interpretationen sind. An dieser Stelle entsteht ein Diskussionsfeld. Dadurch ist die Menschheitsgeschichte nicht statisch, sondern verändert immer wieder ihr Gesicht. In der Schule wird unterrichtet, dass Wissenschaft nie relativ ist. Doch es sollte auch unterrichtet werden, dass es Bereiche der Wissenschaft gibt, die im Spannungsfeld zwischen Fakt und Interpretation liegen. Und das nicht, weil wir angelogen werden, sondern weil jede Idee von unserer Geschichte ein Stück von dem enthält, was wir wissenschaftlich gar nicht untersuchen können. (Geesche Wilts, 13.2.2020)