Verlagsleiterin Gerlinde Hinterleitner.

Foto: STANDARD/Corn

Vor 25 Jahren, am 2. Februar 1995, ging DER STANDARD online – als erste deutschsprachige Tageszeitung.

Niemand hörte mein Läuten. Ich stand seit zwanzig Minuten in einem Bürohaus im dritten Bezirk, es war finster, früher Abend, kurz vor Weihnachten. Der einzige Mensch in Wien, der HTML-Programmierkenntnisse hatte, hatte mich offensichtlich versetzt. Dabei musste ich ihn unbedingt treffen ...

Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, den STANDARD weltweit online abrufbar zu machen. Ein Computer und ein Modem standen bereits in meinem Büro, auch ein Internetzugang war organisiert. Was fehlte, war die Webseite. Ich hätte den Plan wohl aufgegeben, wenn ich unverrichteter Dinge nach Hause hätte gehen müssen. Das Vorhaben, die Zeitung ins Netz zu bringen, stellte sich nämlich als mühsam, aufreibend und zeitintensiv heraus. Damals, im Spätherbst 1994, wusste kaum jemand wirklich, was das war, das Internetz, welche Möglichkeiten es bot. Zum Glück hat mich der Programmierer damals dann doch noch gehört. Für 10.000 Schilling, unser gesamtes Budget, das ich nach langem Ringen im Verlag aufgetrieben habe, konnten wir die Website erstellen.

Nicht nur ich, sondern auch einige andere im STANDARD waren vor 25 Jahren bereit, an diese scheinbar nerdige Idee zu glauben. Am 2. Februar 1995 war es tatsächlich so weit: Oscar Bronner präsentierte pünktlich um 10:00 Uhr bei einer Pressekonferenz die aktuelle Ausgabe des Standard am Computerbildschirm. Wir waren damit die Ersten – und darauf bin ich noch immer ein bisschen stolz.

Nachahmung

Auch wenn es damals noch kein Privatfernsehen gab, war die Medienlandschaft in Österreich mit TV, Radio und Zeitungen bereits dicht besetzt. Welchen Platz könnte da ein vierter Spieler einnehmen? Wie könnte ein neues Nachrichtenmedium von den Menschen massenhaft gebraucht werden? Es musste etwas anderes bieten als Buch, Zeitung, Radio und Fernsehen. Ich dachte zwar darüber nach, doch es waren vorerst ganz andere Probleme zu lösen.

Meine Kollegen und ich bemühten uns vorerst vor allem, den STANDARD online regelmäßig erscheinen zu lassen. Diese Übung, die Zeitung sprichwörtlich jeden Tag in den Computer zu stopfen, musste nun ja jeden Abend nach Dienstschluss gelingen.

Kaum hatten wir das einigermaßen im Griff, wandten wir uns dem Erscheinungsbild der Online-Ausgabe zu. Frames, farbige Fotos und kleine animierte Bilder zierten bald die Seite. Wir ahmten die Zeitung nach – im Netz zwar, aber ohne die herausragenden Spezifika des Internets zu nutzen. Mir war bald klar, dass wir das ändern müssen.

Jede Art von Erscheinungsrhythmus ist dem neuen Medium fremd. Ereignisse und Erkenntnisse wollen sofort verbreitet sein. So lautet das Prinzip, das habe ich jahrelang in der Redaktion gepredigt. Wir halten uns bis heute daran, immer aktuell zu sein, tickern live bei größeren Ereignissen, berichten bis tief in die Nacht und wollen immer bereit sein.

Soziale Medien

Aber es gibt eine zweite, unvergleichliche Besonderheit des Internets: Jeder User kann im Netz den öffentlichen Diskurs aktiv organisieren und mitgestalten. Soziale Netzwerke und Foren übernehmen fast beiläufig genuin journalistische Funktionen. Manche meinen sogar, es würde traditionelle Medien gar nicht mehr brauchen. Diese unglaubliche Sprengkraft der sozialen Netzwerke war mir damals nicht bewusst. Außer Frage stand für mich allerdings immer, die Interaktivität der Seite auszubauen und als Bereicherung für das journalistische Angebot zu sehen.

Wir experimentieren, um dem Medium gerecht zu werden: zuerst mit einem Chatroom, in dem sich User in Echtzeit übers Tagesgeschehen unterhalten konnten – bis heute gibt es diese Räume. Jeder Artikel bekam seine eigene Kommentarspalte.

Wir waren das erste Medium weltweit, das jeden Artikel zur Diskussion stellte, damals noch in dem Glauben, dass wir ohne intensive Moderation auskommen würden. STANDARD-Leser und -Leserinnen würden ihren besonnenen, intellektuellen Diskurs, den sie sonst auf Papier oder im Wirtshaus führten, einfach im Netz verbreiten. Drei Monate ließen wir im Forum in Echtzeit diskutieren, ab dann wurde jedes einzelne Posting vorher kontrolliert. Gut für die Qualität der veröffentlichten Postings, problematisch für den Diskurs. Mittlerweile haben wir auch dieses Problem durch intensive Moderation gelöst, die weiterhin eine lebendige Diskussion ermöglicht.

Viele in der Branche ignorierten die Anfänge, belächelten die ersten Erfolge, bekämpften die notwendigen Veränderungen und akzeptierten zum Schluss widerwillig den digitalen Transformationsprozess. Davon blieb ich auch im STANDARD nicht verschont. Trotzdem überwiegen für mich bis heute die positiven Aspekte des Internets auf eine Weise, wie ich sie mir nicht zu träumen gewagt hätte.

Das Alte will ich nicht mehr zurückhaben. (Gerlinde Hinterleitner, 1.2.2020)