Ein Gletscher im Hochland von Tibet. Forscher rechnen bis zum Jahr 2090 mit einem Rückgang der Eismassen in der Region um 50 Prozent.

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Viren sind so erfolgreich, dass sie in fast allen Lebensräumen der Erde zu finden sind. Diese biologischen Einheiten besitzen weder eigene Zellen noch verfügen sie über einen Stoffwechsel – daher zählen sie auch nicht zu den Lebewesen. Doch sie verfügen bekanntermaßen über ein äußerst effektives Programm zur Ausbreitung und Vermehrung – alles, was es braucht, ist eine Wirtszelle, die infiziert werden kann.

Wie sich einzelne Viren dank hoher genetischer Variabilität rasant an neue Gegebenheiten anpassen können und so infektiöser werden, zeigt aktuell das erstmals im Dezember in China aufgetauchte Coronavirus 2019-nCoV. Wissenschafter sind sich noch uneins, von welchem Wildtier das Virus auf den Menschen übergesprungen ist – der Ursprungswirt dürfte eine Fledermausart gewesen sein, als mögliche Zwischenwirte kommen andere kleine Säugetiere und Schlangen in Betracht. Veränderungen an einem Protein des Erregers zeigen jedenfalls, wie 2019-nCoV auf Menschen überspringen konnte: Die Mutation erleichtert das Andocken des Erregers an menschliche Zellen.

Fund im Eis

Wie viele Viren eigentlich existieren, ist völlig unklar. Wissenschafter nehmen an, dass es Millionen von Arten geben muss – klassifiziert wurden bisher freilich nur wenige Tausend. Wo man bei der Suche nach solchen infektiösen Strukturen überall fündig werden kann, zeigt eine Studie von Forschern der Ohio State University und des Lawrence Berkeley National Laboratory: Sie sind in Eisproben aus einem Gletscher im tibetischen Hochland auf unbekannte Viren gestoßen, die bis zu 15.000 Jahre alt sind.

Wie die Forscher in ihrer Studie, die vorerst auf dem Preprint-Server "bioRxiv" erschienen und noch nicht einem Peer-Review-Verfahren unterzogen worden ist, berichten, konnten sie in Eisbohrkernen insgesamt 33 Virusgattungen nachweisen, von denen 28 bisher unbekannt waren. "Gletschereis beherbergt vielfältige Mikrobengemeinschaften, doch dazugehörige Viren sind weitgehend unerforscht", schreibt das Team um Zhi-Ping Zhong und Lonnie Thompson.

Unbekannte Bakteriophagen

Für ihre Studie entnahmen die Wissenschafter Eisbohrkerne des Guliya-Gletschers aus 50 Meter Tiefe und schafften sie unter kontrollierten Bedingungen ins (tiefgekühlte) Labor. Um die Kontamination mit "modernen" Mikroben und Viren möglichst auszuschließen, entfernten sie im Labor die äußeren Eisschichten und entwickelten eine neue Methode zur sterilen Entnahme winziger Eisproben, die sie dann im Detail untersuchten.

Die Analyse ergab sehr unterschiedliche mikrobielle Zusammensetzungen der Proben, die auf ein Alter von bis zu 15.000 Jahre datiert werden konnten: "Das ist vermutlich den sehr verschiedenen klimatischen Bedingungen zu Zeiten der Einlagerungen geschuldet", schreiben die Forscher. Zusätzlich zu zahlreichen Bakterien, darunter Sphingomonadaceae und Janthinobacterien, fanden sich auch etliche Viren, die diese Bodenmikroben infiziert hatten: "Sie sind fünf bekannten und 28 vermutlich neuen Gattungen zuzuordnen", heißt es in der Studie.

Schlummernde Erreger

Ihre Methodik eröffne ein neues Fenster zur Erforschung von Eis-Archiven, so Thompson und Kollegen. Der Klimawandel mache es durch das Auftauen der Gletscher jedoch zunehmend schwieriger, die Diversität von im Eis konservierten Bakterien und Viren zu untersuchen und Rückschlüsse auf die Vergangenheit zu ziehen. Der Verlust dieser Archive sei für die Wissenschaft tragisch, im schlimmsten Fall könnte aber ein ganz anderes Problem daraus erwachsen: Im auftauenden Eis schlummernde Krankheitserreger – Viren wie Bakterien – könnten in die Umwelt gelangen und für Infektionen sorgen.

Wie problematisch das sein kann, zeigte sich im Sommer 2016 im Nordwesten Sibiriens: Damals ließen ungewöhnlich hohe Temperaturen Permafrostböden auftauen, wodurch Sporen des Milzbranderregers Bacillus anthracis freigesetzt wurden, die dort Jahrzehnte überdauert hatten. Rentiere infizierten sich beim Grasen, es folgte der erste Anthrax-Ausbruch in Russland seit 75 Jahren. Binnen kurzer Zeit verendeten mehr als 2.300 Rentiere, doch auch Menschen infizierten sich: Ein Bub kam ums Leben, 90 Personen mussten in Krankenhäusern behandelt werden. (dare, 28.1.2020)