Boston – Lange galten die amerikanischen Ureinwohner als die edlen Wilden, die in Einklang mit der Natur lebten. Als die ersten Siedler aus Europa an der Ostküste Nordamerikas landeten, schwärmten sie entsprechend von der unberührten paradiesischen Natur, die sie sich prompt untertan machten – worüber wiederum die Ureinwohner gar nicht begeistert waren.

Als Beleg dafür gilt ein Zitat, das wahlweise als Weissagung der Cree oder Prophezeiung der Hopi auf Stickern der Umweltschutzbewegung seit den 1980er-Jahren auch in unseren Breiten Karriere machte: "Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann."

Dekonstruktion eines Zitats

Chief Seattle auf einer Fotografie aus dem Jahr 1864. Das ihm zugeschriebene Zitat war in der Urfassung ganz anders gemeint.
Foto: gemeinfrei / Wikimedia

Das Zitat, das auch Häuptling Seattle zugeschrieben wird, ist freilich nur sehr mittelbar altindianischen Ursprungs, wie Recherchen ergaben. Erste ähnliche Formulierungen gehen auf das Jahr 1972 und auf die spätere kanadische Dokumentarfilmerin Alanis Obomsawin (immerhin indianischer Herkunft) und den US-Filmregisseur Ted Perry zurück. Seine endgültige Form, in der es populärkulturell Karriere machte, erhielt es erst Anfang der 1980er-Jahre.

Die Zweifel am indianischen Ursprung des berühmten Slogans gingen in den letzten Jahren Hand in Hand mit einer zunehmend kritischen Betrachtung der angeblichen Nachhaltigkeit der Ureinwohner Amerikas. Umwelthistorische Arbeiten kritisieren das Bild vom Indianer, der in tiefer spiritueller Verbundenheit mit der Natur lebt, als romantische Projektion der Europäer.

Traditionelle Büffeljagd in den Prärien Nordamerikas.

In Wahrheit seien auch schon so manche edle Wilde in Nord- und Südamerika "Umweltsäue" gewesen, um es mit einem gerade populären Begriff zu sagen: Bereits die indigene Bevölkerung Amerikas habe Warnrufe der Natur ignoriert, brandgerodet und andere wenig nachhaltige Eingriffe in die Umwelt vorgenommen – von wenig nachhaltiger Büffeljagd bis zur verhängnisvollen Umgestaltung von Flusssystemen.

Positives Umweltzeugnis

In jüngsten Studien wird nun aber auch an diesen rezenteren Dekonstruktionen vorgeblicher Mythen Kritik geäußert. So stellen US-Forscher in einer aktuellen Untersuchung zumindest den indianischen Ureinwohnern Neuenglands, also des nordöstlichsten Teils der heutigen USA, ein positives Umweltzeugnis aus. Eine tiefgreifende Umgestaltung der Landschaft etwa mithilfe von Brandrodungen hat laut diesen Recherchen, die im Fachblatt "Nature Sustainability" publiziert wurden, erst nach Ankunft der europäischen Siedler stattgefunden.

Auf Martha's Vineyard in Massachusetts dominiert heute das Grasland. In Neuengland waren freilich bis zur Ankunft der Siedler aus Europa Waldflächen weit verbreitet.
Foto: David Foster, Harvard University

Das interdisziplinäre Team um Wyatt Oswald (Emerson College in Boston), das aus Archäologen und Ökologen bestand, erhob verschiedenste Daten, die über die Umweltgeschichte Neuenglands seit der letzten großen Vereisung vor 14.000 Jahren Aufschluss geben. Dazu gehörten Informationen über verschiedene Pollenvorkommen ebenso wie verschiedene hydrologische und archäologische Messungen, Rekonstruktionen der Brandgeschichte durch Holzkohlenreste sowie Daten aus Geoinformationssystemen, um so Veränderungen im Zeitverlauf zu ermitteln.

Viele Indianer, wenig Zerstörung

Eine erste große Überraschung für die Forscher war, dass die amerikanischen Ureinwohner laut den Daten seit mindestens 14.000 Jahre in Neuengland lebten und zu bestimmten Zeiten eine relativ große Bevölkerungsdichte aufwiesen, wie die Archäologin und Co-Autorin Elizabeth Chilton (Binghamton University) erklärt. Doch diese Menschen hinterließen laut den Untersuchungen kaum Spuren in der Umwelt. Die Ureinwohner haben sich perfekt an die sich ändernden Umweltbedingungen angepasst, selbst aber für keine klimaverändernden Eingriffe gesorgt.

Ein Wäldchen auf Martha's Vineyard. Die Ureinwohner Neuenglands haben die dortigen Waldflächen in den letzten 14.000 Jahren nie in größerem Maßstab gerodet.
Foto: David Foster, Harvard University

Das änderte sich erst mit der Ankunft der Siedler – zumindest im Bereich der Küstenregionen von New England, die im Zentrum der neuen Studie standen. Nach der Ankunft der Europäer kam es dann zum großflächige Fällen und Abbrennen von Wäldern, die in der Umweltbilanz sehr deutlich sichtbar sind, wie die Forscher resümieren. Solche Analysen würden freilich auch wichtige Lehren für die Zukunft bereithalten, wie Wyatt Oswald betont: "Solche umwelthistorischen Untersuchungen helfen uns auch beim Nachdenken darüber, wie wir diese Landschaften am besten erhalten können."

Bleibt die Frage, ob die gründlichen neuen Erkenntnisse aus dem Nordosten der USA auch für alle auf andere Teile des amerikanischen Doppelkontinents gelten. Der ökologische Fußabdruck der Indigenen Neuenglands scheint jedenfalls vorbildlich gewesen zu sein. (Klaus Taschwer, 20.1.2020)