Hier oben soll einem also das Glück mit ausgebreiteten Flügeln entgegenflattern. Zumindest will es Santalal Gajmer soeben mit seinem Fernrohr eingefangen haben. In einiger Entfernung beobachtet der Vogelschützer vier Kraniche. Sie sind gerade gelandet, und nun stolziert einer nach dem anderen durch das Sumpfland in etwa 3.000 Meter Höhe. Mit ihrem grauweiß-schwarzen Gefieder sehen sie recht unscheinbar aus.

Im Phobjikha-Tal mitten im Himalajakönigreich Bhutan werden die Vögel als Himmelsboten und Glücksbringer verehrt. Nur ein dunkelroter Fleck auf der Stirn verleiht den Schwarzhalskranichen ein wenig Grazie. Ihre wahre Anmut entfalten sie erst, wenn sie im späten Abendlicht zu Dutzenden im andächtigen Gleitflug ins Tal zurückkehren.

Buddhistische Gebetsfahnen werden auch im abgelegenen Phobjikha-Tal hochgehalten.
Foto: Win Schumacher

"Wir freuen uns, dass die Vögel inzwischen sogar Gäste aus dem Ausland anlocken", sagt der 38-Jährige von der Königlichen Gesellschaft für Naturschutz. Santalal zählt Jahr für Jahr die Glücksboten, die sich im Phobjikha-Tal niederlassen. Etwa 500 Tiere sind es in ganz Bhutan. Ihre Zahl hat in den letzten Jahren wieder leicht zugenommen. Weit mehr von ihnen gibt es im tibetischen Hochland, wo das wichtigste Brutgebiet der Vögel liegt.

"Die Chinesen essen einfach alles", sagt Santalal, "aber mittlerweile stehen die Kraniche auch in Tibet unter strengem Schutz." Der Naturschützer hofft, dass die Himmelsvögel in naher Zukunft einmal wieder in riesigen Schwärmen ihren berühmten Vogeltango auf den Hochebenen des Himalajas tanzen. Und eine wachsende Zahl an Touristen beglücken.

Land öffnet sich

Ein Königreich für Siebentausender • Bis heute ist Druk Yul, das Land des Donnerdrachens, so der Staatsname Bhutans in der Landessprache, eine abgeschiedene Welt geblieben. Reisende beeindruckt das letzte Himalajakönigreich mit seinen jahrhundertealten Klöstern, märchenhaften Königspalästen und ewig schneebedeckten Siebentausendern. Doch die Zeit steht auch hier nicht still.

Seit wenigen Jahrzehnten öffnet sich das Land westlichen Einflüssen, technischen Neuheiten und dem Tourismus. Erst 1999 wurden Fernseher eingeführt. Inzwischen haben fast alle Bhutaner ein Mobiltelefon, und mehr als 750.000 der 800.000 Einwohner verfügen über einen Internetanschluss – vor etwa zehn Jahren waren es noch weniger als 5.000.

Westliche Reisende pilgern in den letzten Jahren in immer größerer Zahl in das kleine Land zwischen Tibet und Indien. Etliche von ihnen sind auf der Suche nach einer weltabgeschiedenen Glaubenswelt, die für sie anderswo längst verloren scheint, kurzum: nach ein wenig Glückseligkeit auf Erden. In den Reisebroschüren lockt Bhutan als geheimnisvolles Shangri-La, wo der Buddhismus noch in seiner ursprünglichsten Form gelebt wird.

Bruttonationalglück

Der Lonely-Planet-Verlag tut sein Übriges: Er hat Bhutan gerade zum besten Reiseland für das Jahr 2020 gekürt. Bekannt ist Bhutan vielen für sein ungewöhnliches Konzept des Bruttonationalglücks. Die Verfassung schreibt für seine Bewohner eine sozial gerechte Wirtschaftsentwicklung, den Erhalt spiritueller Werte und eine dem Menschen verpflichtete Regierung vor.

Buddhistische Mönche legen auf dem Pilgerpfad zum bekannten Lungchu-Tsey-Kloster eine Pause ein.
Foto: Win Schumacher

Wie eine Kulisse für eine Zeitreise in die Tage, als Buddha auf Erden wandelte, stellen sich viele einen Besuch Bhutans vor. Schon nach dem abenteuerlichen Anflug auf den zwischen steilen Berghängen eingepferchten Landestreifen des Flughafens Paro werden sie überrascht. Die Bhutaner in ihren wahrlich altertümlich anmutenden Trachten sind über ihre Mobiltelefone gebeugt wie die Eingeborenen in Wien, Kairo oder Rio.

Vor den bekanntesten Touristenattraktionen des Landes bietet sich häufig das gleiche Bild, wie man es mittlerweile aus aller Welt kennt und es einen allenfalls in Bhutan noch wirklich erstaunt: computerspielende Jugendliche, Einheimische in Selfie-Pose, instagramgehypte Aussichtspunkte.

Sein Glück kann jeder Bhutan-Reisende jedoch noch immer überall abseits der bekanntesten Klöster und Paläste finden. Gerade für Naturfreunde hält das Land einige Entdeckungen bereit. Ein Leben im Einklang mit der Natur ist für die Bhutaner nicht nur erstrebenswertes Lebensziel, es ist allgemeines Staatsrecht. Das Bruttonationalglück des Königreichs sieht für seine Bewohner auch den Umwelt- und Naturschutz als eine von vier tragenden Säulen vor.

Klimaziele

In seiner Verfassung hat Bhutan festgelegt, für alle Zeiten 60 Prozent seiner Fläche als Wälder zu bewahren. Mehr als die Hälfte seiner Fläche steht unter Schutz. Damit ist es mit Abstand der Vorreiter Asiens bei der Bewahrung seiner natürlichen Ressourcen. Nach einer Analyse des Climate Action Trackers von Dezember 2018 ist Bhutan eines von nur sieben Ländern weltweit, das wohl die Ziele der Uno-Klimakonferenz von Paris erreicht.

"Doch es gibt noch immer viel zu tun", sagt Vijay Moktan von WWF Bhutan. "Natürlich kämpfen auch wir mit dem Klimawandel, und Wilderei ist vor allem in den Grenzregionen weiter ein großes Thema." Aufgrund seiner außerordentlichen geografischen Vielfalt ist Bhutan ein Rückzugsort für eine ganze Reihe bedrohter Tierarten. Die hochalpinen Zonen an der Grenze zu Tibet sind Heimat von Schneeleoparden, Tibetischen Wölfen und den geheimnisvollen Schwarzen Moschustieren. In den Bergwäldern leben noch immer Königstiger, Nebelparder und Rothunde. Durch das Tiefland des Südens streifen Leoparden, Lippenbären und Elefanten.

Glücksbär

Neben den Kranichen wird noch ein weiteres Tier als Glücksbringer verehrt: Der Katzenbär oder Rote Panda. In den Bergdörfern nahe dem Jigme-Dorji-Nationalpark halten ihn einige wegen seines roten Fells für die Wiedergeburt eines Mönchs. "Manche sagen, wer ihnen begegnet, wird reich und wohlhabend", sagt Yejay. Der Ranger hat sich am frühen Morgen aufgemacht, um im Bergwald des Nationalparks den scheuen Waldbewohner aufzuspüren.

Wo aber steckt er nur, der Glücksbär? "Dies hier ist sein bevorzugter Lebensraum", sagt Yejay, während sein Blick durch das Fernglas von Baum zu Baum wandert. Um den Ranger wuchert dichtes Bambusdickicht, darüber neigen sich die Zweige von uralten Eichen und Bhutan-Tannen. In den Baumkronen verbringt der kleine Panda die längste Zeit des Tages, bevor er sich nachts auf Beutesuche macht.

Mit seinem weit bekannteren Namensvetter, dem Großen Panda, hat der Rote Panda eigentlich nur eines gemeinsam: seinen Heißhunger auf frische Bambussprossen. Mit dem berühmten schwarz-weißen Maskottchen des Artenschutzes und Sympathieträger des WWF ist der Rote Panda nur entfernt verwandt. Dieser Katzenbär ist viel kleiner und unterscheidet sich nicht nur in der Farbe und Statur, sondern auch durch seinen buschigen geringelten Schwanz von dem Großen Panda.

Im Nebelwald könnten sie auch auf den Roten Panda treffen, doch die Tierchen verstecken sich gerne.
Foto: WWF

Yejay lässt seinen geübten Rangerblick wieder und wieder durchs Geäst wandern. Trotz seiner rötlichen Farbe ist der Kleine Panda aber gut getarnt. Den morgendlichen Eindringlingen in sein Revier ist heute kein Glück vergönnt. Auf Reichtum und Wohlstand müssen sie wohl vorerst verzichten.

Zotteliges Nationaltier

"Vielleicht sehen wir wenigstens einen Takin", versucht Yejay seine Begleiter zu trösten. "Um diese Jahreszeit kommen sie aus den Bergen ins Tal und lassen sich manchmal blicken." Der zottelige Takin sieht in etwa wie eine Kreuzung aus Elch und Gnu aus und ist das Nationaltier Bhutans. In einer Legende schuf der als Göttlicher Narr verehrte Mönch Drugba Künleg den Takin aus den Überresten eines Rind- und Ziegengerichts.

Drugba Künleg hat als Gelehrter und umtriebiger Schalk seit dem 15. Jahrhundert bis heute zahllose Anhänger in Bhutan. Die Philosophie des eigenwilligen Missionars aus Tibet kann recht einfach zusammengefasst werden: Lebenslust vor heuchlerischer Moral und Asketentum. Sein wohl augenfälligstes Vermächtnis findet sich in Form sehr expliziter Malereien an so manchen Geschäften und Bauernhäusern rund um das Chimi-Lhakhang-Kloster nicht weit vom Jigme-Dorji-Nationalpark: Ein ejakulierender Phallus erinnert an die Lehre des Eulenspiegels Bhutans und den sagenumwobenen Takin-Schöpfer.

Schillernde Vögel

Die mythische Rinderziege und der Katzenbär bleiben für heute jedoch beide im Bergwald verborgen. Yejay und seinen Waldwanderern wird kein Glück zuteil. "Die meisten unserer Tiere sind eher scheu", sagt der Ranger. Stattdessen zeigt sich eine überraschend vielfältige Vogelschar. Durchs Geäst am Wegesrand flattern Schwarzkappen-Timalien und Goldbauch-Fächerschnäpper. An einem Gebirgsbach halten Weißkopfschmätzer und Wasseramseln Ausschau nach Insekten. "Noch weiter oben in den Bergen leben der Königsglanz- und der Blutfasan." Mit ihrem leuchtend farbigen Federkleid gehören die nahe der Schneegrenze heimischen Vögel zu den schillerndsten des Himalajas.

Für den Vogelfreund bedeutet Glück, wenn ihm eine unbekannte Art vor das Fernglas flattert. "Viele Touristen hoffen, hier einen Roten Panda oder gar einen Tiger zu sehen", sagt Yejay. "Ich selbst kann mich genauso für einen neuen Vogel begeistern, den ich noch nie gesehen habe." (Win Schumacher, RONDO, 16.1.2020)