Den Wiener Siedlungsanfang zu beforschen können Sie sich ein wenig wie folgendermaßen vorstellen: Sie stehen vor dem Scherbenhaufen eines riesigen Spiegels, und jede Scherbe, die Sie in die Hand nehmen, zeigt Ihnen ein kurios verzerrtes, unscharfes, lichtschwaches Teilspiegelbild einer vergangenen Realität. Diese Splitter narren nicht nur glitzernd das Auge (banaler ausgedrückt: jede Menge falscher Modelle in den letzten 100 Jahren!), ihre Scharfkantigkeit macht den Zugriff durchaus schmerzhaft (in Übersetzung: schlaflose Nächte, Urlaube vor dem Computer und dabei Symptome von Besessenheit). Dazu kommt noch die fatale Gewissheit, dass im verbauten Stadtgebiet immer "Stücke" fehlen werden. Hilft alles nichts: Ist man der Sache erst verfallen, glitzert dieser Scherbenhaufen verführerisch märchenhaft wie besagter Zauberspiegel in Andersens Märchen "Die Schneekönigin" und lockt mit dem unberührbaren Schattenspiel von Platos Höhle.

Kann die Frage nach etwas so schwer zu fassendem wie den ersten Regungen mittelalterlicher Siedlungstätigkeit überhaupt beantwortet werden? Das Projekt des Bundesdenkmalamts über den mittelalterlichen Siedlungsanfang Wiens mündete in einem Buch, das am 23. Jänner präsentiert wird und verschiedenste Aspekte und Facetten eines komplexen Ganzen bietet.

Der Fall einer Burg

Ein besonders großer Teil des Projekts – immerhin mit allem Drum und Dran etwas mehr als 160 Seiten – hatte die schwierige und ein wenig undankbare Aufgabe, eine Burg zu Fall zu bringen. Die Legende des sogenannten Berghofs überschattete schon viel zu lange die Wiener Stadtgeschichte und sorgte für Stagnation und Märchen aller Art. Eine Neubearbeitung der Grabungsergebnisse Ruprechtsplatz/Sterngasse aus den frühen 70er-Jahren räumt nun auf mit diesem Mythos auf und setzt sich gleich auch noch mit den damit in Zusammenhang stehenden Fragen nach dem Alter der Kirche St. Ruprecht (nicht vor dem 12. Jahrhundert) und der Idee (vollständig zu verwerfen) eines ersten Marktplatzes – dem sogenannten Kienmarkt – auseinander.

Überblick über die Fassade der Kirche St. Ruprecht während der Sanierung 1948/49.
Foto: Bundesdenkmalamt

Von Gräbern und Hunden

Kein Nachweis der Lebenden ohne "Zwiesprache" mit den Toten. Und genau hier wird es kompliziert, in der Zeit zwischen dem Abzug der Römer mit ihren recht gut nachvollziehbaren Bestattungsbestimmungen und dem entwickelten Hochmittelalter mit seinen klar umrissenen Kirchhöfen. Dazwischen tummeln sich verschiedenste Völkerschaften mit unterschiedlichsten religiösen und sozialen Spielregeln. Das läuft nicht unbedingt unter archäologischer Wunschtraumvorstellung. Wie bringt man Ordnung in ein solches Chaos? Zwei Kolleginnen haben sich daran gewagt und katalogisiert, was sich an Bestattungsformen in Wien zwischen dem 5. und 11. Jahrhundert so abspielte, und da findet sich auch die eine oder andere pittoreske Geschichte. Nehmen sie zum Beispiel vier Gräber aus der Ottakringer Straße her. In römischen Steinsärgen kuscheln da Hunde zu Füßen der etwas durcheinandergebrachten Bestattungen. Wie kam es dazu? Ganz offensichtlich wurden diese an sich spätantiken Bestattungen beraubt. Nach getaner Arbeit gab man den sterblichen (Über-)Resten – als kleine Entschädigung? – die Hunde mit zur Fortsetzung der so schmählich unterbrochenen letzten Ruhe.

Grab 2 aus der Ottakringer Straße, Wien 17.
Foto: Bundesdenkmalamt, Abteilung für Archäologie
Grab 3 aus der Ottakringer Straße, Wien 17.
Foto: Bundesdenkmalamt, Abteilung für Archäologie

Licht ins Dunkel einer "Schwarzen Schicht"

Und wenn wir schon beim Dekonstruieren von Theorien sind, können wir Ihnen noch einen Auflösungsprozess anbieten. Dass es keine Siedlungskontinuität zwischen den Römern und dem mittelalterlichen Wien gegeben hat, ist nicht mehr die neueste aller Neuigkeiten. Die sogenannte "Schwarze Schicht" steht schon lange für eine Unterbrechung, eine Pause in der Siedlungstätigkeit im ehemaligen Legionslager. Die neuen Ergebnisse gehen allerdings noch einen Schritt weiter. Eine Kombination aus archäologischem und naturwissenschaftlichem Zugang zeigte nun auch, wie stark in dieser Schicht umformende hochmittelalterliche Einflüsse wirksam wurden. Von der Erdverlagerung bis zur Abfallentsorgung konnten verschiedenste Anteile dieser Schicht analysiert werden, und es zeigte sich einmal mehr, wie wichtig ein multidisziplinärer Ansatz ist, wenn man Schichtbildungsprozessen auf den Grund gehen will.

Die "Schwarze Schicht" in der Salvatorgasse 12.
Foto: Bundesdenkmalamt/AS-Archäologie Service

"Erlöserstraße" für frühe Siedlungsstrukturen und ein Gesamtüberblick darüber, wo es sich noch abspielte

Wenige Grabungen ließen bis jetzt überhaupt auf Hinweise auf die frühesten mittelalterlichen Siedlungsspuren hoffen. Die Salvatorgasse Nummer 12 war so ein Fall. Eine gut dokumentierte Schichtabfolge von den Römern bis ins Mittelalter gibt einen Überblick über hölzerne Baureste und Keramik des frühen Hochmittelalters und zeigt somit einige der frühesten profanen Spuren auf Wiener Boden. Darüber hinaus hat der Verfasser der Grabungsauswertung auch noch einen Katalog der Siedlungsbefunde ab dem Abzug der Römer zusammengestellt – ähnlich dem Katalog der Gräber, dem ersten Überblick dieser Art für Wien.

Von Mauern und Türmen

Was braucht eine Siedlung in unruhigen Zeiten, was braucht eine Niederlassung, die städtisch werden will/gerade wird und entsprechend auch Wichtigkeit demonstrieren will? Eine Befestigung selbstverständlich. Nun, die erste genuin mittelalterliche Befestigung errichten die Babenberger Ende des 12./Anfang des 13. Jahrhunderts. Aber wie sieht es vorher aus? Immerhin waren wir einmal ein Legionslager, und selbiges verfügte über die übliche beachtliche Befestigung. Die Frage, inwiefern diese Befestigung im Mittelalter vor der babenbergischen Mauer als Mauerring diente beziehungsweise was wir überhaupt über den Umgang mit dem römischen Befestigungserbe wissen, wurde ebenfalls ausführlich beforscht und vorgestellt.

Ende und Anfang

Gibt es nun "eine" Antwort auf die Frage nach dem Wo und Wer, eine Jahreszahl für das Wann, ein vollständiges Bild für das Wie? Ein solches Projekt kann und soll keine historisierenden Ölgemälde von hübschen kleinen Siedlungen inklusive schmuckem Gründungsdatum anstelle einer Künstlersignatur produzieren – gefällig und im Handumdrehen überholt. Aufgabe ist es viel eher – gemäß dem winterlichen Gleichnis zu Beginn –, demütig einige Splitter einzusammeln, an ihren Platz im noch recht leeren Rahmen zu setzen und das dadurch wachsende Abbild ein wenig fassbarer zu machen. Auf diese Art schafft man eine solide Basis für weitere Forschungen, für zukünftige Grabungen. Man sensibilisiert für Fragestellungen und beschleunigt und erleichtert zukünftigen Erkenntnisgewinn in einer Millionenstadt mit großen, schnellen Bauprojekten. Wenn das Ergebnis eines Projekts es in sich hat, weitere Forschung zu inspirieren, das Ende das Potenzial für wenigstens einen erfolgversprechenden wissenschaftlichen Anfang hat, darf man einen Moment zufrieden innehalten – dann fixiert man den nächsten Geschichtsschatten, greift nach der nächsten Scherbe und macht sich wieder an die Arbeit. Und so ganz nebenbei und nur aus Neugier: Wie, wo und wann stellen Sie sich den Anfang Wiens vor? (Ingeborg Gaisbauer, 16.1.2020)