Im Gastkommentar weist der Soziologe Jörg Flecker darauf hin, dass es besser und nachhaltiger wäre, bei den Arbeits- und Ausbildungsbedingungen anzusetzen.

Ausgangspunkt für die sogenannte Mangelberufsliste waren die von Unternehmen genannten Schwierigkeiten, bestimmte Arbeitsplätze zu besetzen. Die politische Antwort darauf sind Möglichkeiten zur Beschäftigung von Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürgern in einer Reihe von Berufen, teils bezogen auf Regionen – eben die Mangelberufsliste. Das ist kein überraschender Schritt, denn seit mehr als 50 Jahren ist das Anwerben ausländischer Arbeitskräfte als Maßnahme der Arbeitsmarktpolitik bekannt.

Überraschend ist jedoch, dass dieser Weg auch noch innerhalb der EU mit ihrer Freizügigkeit der Arbeitskräfte beschritten wird. Ab Sommer 2020 wird auch Kroatien, für das bisher Übergangsbestimmungen gelten, in diese Freizügigkeit einbezogen. Den österreichischen Betrieben steht also auch ohne Mangelberufsliste der Arbeitsmarkt eines Gebietes mit mehr als 500 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern für die Rekrutierung von Arbeitskräften offen. Und für mehr als 15 Millionen Personen fehlen in der EU Arbeitsplätze. Vor allem junge Menschen etwa in Südeuropa sind seit Jahren stark von Erwerbslosigkeit betroffen und haben sich auf den Weg in andere Mitgliedsstaaten gemacht, um Arbeit zu finden.

Nachhaltige Lösungen suchen

Um einem Missverständnis vorzubeugen: Es ist grundsätzlich nichts gegen Krankenpflegerinnen aus Thailand, Schweißer aus der Türkei, Bauingenieure aus Nigeria oder Köchinnen aus Serbien einzuwenden. Aber wenn der Arbeitsmarkt der EU mit seinen vielen mobilen Arbeitskräften nicht ausreicht, um bestimmte Arbeitsplätze in Österreich besetzen zu können, stellt sich die grundsätzlichere Frage, was hierzulande mit den Arbeitsplätzen und mit der Aus- und Weiterbildung nicht stimmt. Und besteht nicht die Gefahr, dass mit einer scheinbar einfachen Lösung für die Schwierigkeiten bei der Stellenbesetzung Probleme zugedeckt und wirtschaftlich und sozial nachhaltigere Wege versperrt werden? Wäre es nicht höchste Zeit für Innovationen, wodurch mehr Menschen, die jetzt bereits in Österreich Arbeit suchen, auf solchen Arbeitsplätzen eingesetzt werden können?

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Die Gastronomiebranche klagt lautstark über einen Mangel an Arbeitskräften. Aber was wird unternommen, um deren Arbeitsbedingungen zu verbessern?
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Besonders häufig und lautstark beklagt die Gastronomie vor allem in Westösterreich den Mangel an Arbeitskräften. An dieser Branche fällt auf, dass sehr viele junge Leute gleich nach der Ausbildung oder einige Jahre später die Branche wieder verlassen. Die Ursachen sind die langen Arbeitszeiten, die Arbeit am Wochenende, die niedrigen Löhne, die körperlich anstrengende Arbeit, der oft raue Umgangston und die mangelnde Vereinbarkeit des Berufs mit Familienpflichten. Auf diese Bedingungen wird seit Jahrzehnten hingewiesen, verändert hat sich aber wenig. Oft heißt es, das habe eben mit dieser Dienstleistung zu tun, dass man zum Beispiel dann arbeite, wenn andere frei hätten. Dieses Argument überzeugt nicht, denn durch entsprechende Dienstpläne lässt sich dafür sorgen, dass die Köche und Kellnerinnen regelmäßig auch an Wochenenden freibekommen.

Kontraproduktives Arbeitszeitgesetz

Es gibt also im Gastgewerbe genügend Ansatzpunkte, die Beschäftigten länger in der Branche zu halten, um so dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Freilich müsste dieses Ziel auch auf der Ebene der Kollektivverträge und der Gesetze verfolgt werden – etwa durch die Reparatur der kontraproduktiven Novellierung des Arbeitszeitgesetzes im Jahr 2018. Damit wurde die tägliche Ruhezeit im Gastgewerbe bei geteilten Diensten von elf auf acht Stunden verkürzt. Das bedeutet, dass nach körperlich und psychisch anstrengender Arbeit nicht ausreichend Zeit für den Schlaf bleibt, wenn man die Zeiten für den Arbeitsweg, fürs Essen und die Körperpflege bedenkt. Das beeinträchtigt die Gesundheit und verletzt die Menschenwürde.

Andere Branchen, welche die Mangelberufsliste nützen, bieten freilich andere Bedingungen und haben andere Probleme. So sind in der Industrie in der Regel die Arbeitsbedingungen besser und die Einkommen höher. Was aber haben Friseurinnen und Friseure auf der Mangelberufsliste (für Tirol und Vorarlberg) zu suchen, wenn der Kollektivvertragslohn auch nach langjähriger Berufstätigkeit unter 1.700 Euro brutto bleibt? Und was ist gewonnen, wenn sich Leute von außerhalb der EU anstelle von EU-Bürgerinnen und -Bürgern am Bau oder im Gastgewerbe die Gesundheit ruinieren, zu wenig verdienen, um eine angemessene Wohnung zu bezahlen, oder Arbeitszeiten haben, die weder mit der Familie noch mit Deutschkursen vereinbar sind? Nachhaltiger wäre es, an den problematischen Arbeits- und auch Ausbildungsbedingungen anzusetzen, die in vielen, wenn auch keineswegs in allen Mangelberufen vorherrschen.

Ältere als Zielgruppe sehen

Wie die Statistiken über Erwerbslosigkeit zeigen, gibt es bei den Älteren auf dem Arbeitsmarkt noch ein großes Potenzial. Innovationen in der Personalpolitik und teils in den Arbeitsbedingungen würden es erlauben, mehr Arbeitsplätze auch in Mangelberufen mit Älteren zu besetzen. Darüber hinaus können psychisch oder körperlich beeinträchtigte Personen gewonnen werden, wenn man die Bedingungen für sie angemessen gestaltet.

Das erfordert eine Neuorientierung: Es gilt, Menschen nicht mehr als nützliche Ressource zu sehen, die man eben von woanders holen muss, wenn man sie vor Ort kurzfristig nicht in der Form und in dem Ausmaß vorfindet, wie man sie gerade möchte. Vielmehr müsste man fragen, was die passenden Tätigkeiten und Arbeitsbedingungen für diejenigen sind, die einen Arbeitsplatz wünschen, und welche Aus- und Weiterbildung man anbieten kann. Öffentliche Förderungen einer punktgenauen Ausbildung für offene Arbeitsplätze gibt es schon lange.

In der Knappheit Chancen sehen

Knappheiten an Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt werden in der öffentlichen Diskussion grundsätzlich als nachteilig wahrgenommen. Sie beinhalten aber auch Chancen. Zunächst für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, weil ein Mangel an Arbeitskräften die Arbeitssuche erleichtert und ihre Verhandlungsposition stärkt. Darüber hinaus aber für die Gesellschaft und Wirtschaft insgesamt, insofern Knappheiten auf dem Arbeitsmarkt Anlass bieten und Druck erzeugen, grundlegende Probleme bei Löhnen, Arbeitsbedingungen und in der Ausbildung anzugehen und generell Innovationen umzusetzen.

Wird versucht, das Problem mit ohnehin fraglichem Erfolg dadurch zu lösen, dass man Arbeitskräfte von außerhalb der EU ins Land holt, werden wohl eher Chancen vertan und nachhaltige Lösungswege blockiert. (Jörg Flecker, 14.1.2020)