Prophezeite das Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo) im März 1994 noch eine entbehrungsreiche Anpassungsphase für den heimischen Arbeitsmarkt, verkehrte sich die Prognose bereits im Juni desselben Jahres ins Gegenteil. Anstatt von tausenden Jobs, die auf einen Schlag vernichtet würden, sprachen die Wirtschaftsforscher um Fritz Breuss nun von 5500 neuen Jobs, die der EU-Beitritt Österreichs dem heimischen Arbeitsmarkt bereits im ersten Jahr bescheren soll. Die Arbeitslosenquote, so die Prognose aus dem Juni 1994, würde um 0,2 Prozentpunkte fallen.

Dann kam der 1. Jänner 1995, Österreich trat der EU bei. Und am Arbeitsmarkt tat sich so gut wie gar nichts. Die heimischen Wirtschaftsforscher hatten das Kunststück vollbracht, gleich zwei mögliche Szenarien zu prognostizieren und trotzdem danebenzuliegen. Weder gab es massive Anpassungsschocks, noch legte die Beschäftigung zu. Die Arbeitslosenquote stieg 1995 minimalst. Die Zahl ausländischer Beschäftigter fiel sogar bis um die Jahrtausendwende.

Die Donau strömt von Deutschland über Österreich nach Osteuropa. Die Osterweiterung der EU lenkte die Arbeitsmigration in die entgegengesetzte Richtung – allerdings zeitverzögert.
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Dass sich die heimische Wirtschaft so reibungslos in die europäische Familie integrierte, hat einen einfachen Grund: Österreichs Unternehmen hatten sich auf den EU-Beitritt bereits vorbereitet. Immerhin kam dieser nicht allzu überraschend. Die Löhne waren hierzulande Mitte der 1990er-Jahre bereits auf westeuropäischem Niveau, "Österreich hatte keinen komparativen Vorteil gegenüber Westeuropa", wie Michael Landesmann vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WiiW) erklärt. Österreich hatte aber auch keine nennenswerten komparativen Nachteile. Deshalb blieben Schocks am Arbeitsmarkt aus.

Zunächst. Landesmann: "Österreich hatte aufgrund des Lohngefälles sehr wohl einen komparativen Vorteil gegenüber Osteuropa." Und so kam es, dass die eigentliche Zäsur für den heimischen Arbeitsmarkt nicht der EU-Beitritt Österreichs war. Es war der EU-Beitritt der östlichen Nachbarländer Österreichs, die 2004 gemeinsam mit Polen, dem Baltikum, Zypern und Malta Mitglieder der Union wurden. Und es war die EU-Erweiterung um Rumänien und Bulgarien im Jahr 2007, die Österreichs Wirtschaft zu spüren bekam – somit auch der Arbeitsmarkt.

Die eigentliche Zäsur für den heimischen Arbeitsmarkt war nicht der EU-Beitritt Österreichs – es war der EU-Beitritt der östlichen Nachbarländer Österreichs 2004 und 2007.
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Österreich war nun nicht mehr ein Randstaat im westeuropäischen Kontext. Es rückte ins Zentrum einer nach Osten stark erweiterten EU. Allerdings galt die Freizügigkeit für Menschen aus den neuen EU-Ländern erst mit Verzögerung. Deshalb kam zuerst der Schub für die Wirtschaft – und erst später die Massenmigration in den heimischen Arbeitsmarkt.

Also der Reihe nach: Österreichs Wirtschaft, deren Wertschöpfungsketten bereits in den 1990ern tief in den Osten Europas gereicht hatten, profitierte stark von der Osterweiterung. Eine jüngere Wifo-Studie belegt dies anhand von Zahlen aus dem Außenhandel. Demnach handelte Österreich 2014 um 46 Prozent mehr mit dem EU-Ausland, als es ohne EU-Beitritt getan hätte. Finnland und Schweden, die gleichzeitig mit Österreich EU-Mitglieder wurden, verzeichneten ein Plus von lediglich 13 bzw. sechs Prozent. Die Studienautoren führen den deutlichen Unterschied auf die Osterweiterung zurück. Österreich habe ungleich mehr von der Ostöffnung profitiert, weil die hiesige Wirtschaft von jeher stark auf Osteuropa ausgelegt war.

Sieben Jahre nach ihrem EU-Beitritt fielen auch die Beschränkungen der Freizügigkeit für Arbeitskräfte aus den neuen Mitgliedsstaaten. Zwar nahm der Zuzug aus Osteuropa bereits ab 2004 zu. Aber erst 2011 und 2014 kam es zu massiven Bewegungen osteuropäischer Arbeitskräfte nach Österreich. In den intensivsten Jahren migrierten jährlich 30.000 bis 40.000 Personen netto in den heimischen Arbeitsmarkt.

Freizügigkeit trifft Krise

Dass Österreich Anfang der Zehnerjahre zugleich mit einem Anstieg der Arbeitslosenquote zu kämpfen hatte, lag naturgemäß auch am Zuzug aus dem Osten. Aber nicht nur. Was 2008 mit der Lehman-Pleite als Finanzkrise begann, hat sich in Europa inzwischen zu einer veritablen Schuldenkrise ausgeweitet, die 2011 einen Höhepunkt erreicht hat. Die Einheit der Währungsunion stand infrage. Und auch der Arbeitsmarkt litt in Europa und Österreich. Aber noch ein dritter Faktor spiegelt sich in den Arbeitsmarktzahlen Anfang der Zehnerjahre wider: Viele Osteuropäer arbeiteten schon lange in Österreich, mit Beginn der Freizügigkeitsphase aber zum ersten Mal legal. In anderen Worten: Viele, die in den Zahlen als Neuankömmlinge ausgewiesen wurden, waren vorher schon da. Die Migrationsströme fielen auf dem Papier ein bisschen zu groß aus.

Das starke Lohngefälle zwischen Österreich und dem Osten Europas zog Anfang der Zehnerjahre auch dann osteuropäische Arbeitskräfte an, als die Wirtschaft schwächelte. So kamen in den Krisenjahren mehr Osteuropäer ins Land, als von der Wirtschaft nachgefragt wurden
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Das starke Lohngefälle zwischen Österreich und dem Osten Europas zog auch dann osteuropäische Arbeitskräfte an, als die Wirtschaft schwächelte. So kamen in den Krisenjahren mehr Osteuropäer ins Land, als von der Wirtschaft nachgefragt wurden. Beschäftigung wurde in dieser Zeit überproportional von Migranten übernommen – meist zulasten von anderen Migranten, die bereits seit langem im Land waren. Allerdings habe Migration aus dem Osten nur in sehr wenigen Sektoren zu Lohndruck geführt, sagt WiiW-Ökonom Landesmann. Erst im Aufschwung nach der Krise sind keine weiteren Jobs mehr an Zuwanderer verlorengegangen. Die Arbeitslosenquote hat sich seither erholt.

Langfristig schade Arbeitsmigration dem heimischen Arbeitsmarkt nicht, erklärt Landesmann. Druck auf Arbeitskräfte würde eher durch Digitalisierung entstehen als durch Zuwanderung. Allerdings würde künftige Arbeitsmigration anders aussehen als in der jüngeren Vergangenheit.

Die Nachbarn haben aufgeholt

Österreichs Nachbarn haben stark aufgeholt. Dienstleistungen und IT-Branche haben sich gut entwickelt, das Lohngefälle sinkt. Auch die Bevölkerungsstruktur Osteuropas hat sich in weiten Teilen an die im Westen angeglichen. Die Populationen altern, die Bildung steigt, die Wanderwilligen sind bereits migriert. "Komplementarität" sagen Demografen dazu, wenn ein Land die Bevölkerungsgruppen im Überschuss hat, die ein anderes Land braucht. Diese Komplementarität zwischen Ost- und Westeuropa wird immer weniger. "Migration ist nicht mehr so sehr ein Ost-West-Phänomen, sondern mehr ein Nord-Süd-Phänomen", erklärt Landesmann. Die heimische Wirtschaft wird den Bedarf an Arbeitskräften mehr und mehr aus Nordafrika und dem Nahen Osten decken. In diesen Regionen gibt es einen Überschuss an jungen arbeitsfähigen Menschen. (3.1.2020)