Diese beiden werden einander im Morgengrauen wiederbegegnen, wenn der "Mörder" (Itay Tiran, li.) vor dem Henker (Martin Reinke) den Kopf auf den Richtblock legen soll. Doch es kommt alles anders ...

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Im modernen Strafvollzug geschehen noch wahre Zeichen und Wunder. Die Todeszelle des sorgfältig frisierten Mörders (Itay Tiran) gleicht in ihrer blendend weißen Sterilität dem Schauplatz eines Gerichtsdramas. Man rechnet insgeheim damit, gleich von jemandem wie Ferdinand von Schirach im kleinen Einmaleins der Rechtsprechung unterwiesen zu werden ("Totschlag im Affekt – grobes Unrecht oder Chance für einen echten Neubeginn?").

An der Decke des erstaunlich geräumigen Kerkers aber flackert alle Augenblicke das künstliche Licht (Ausstattung: Raimund Orfeo Voigt). Als ob der sonst so schwer belangbare Herr im Himmel seinen Menschenkindern wiederholt Zeichen senden würde. Der Fleiß aller Beteiligten ist vorbildlich. Er gilt einer Wiederentdeckung. Im Wiener Akademietheater, wo Mateja Koležnik das vollkommen vergessene Minidrama Der Henker famos versponnen inszeniert, befreit man ein rätselhaftes Prachtstück aus dem Dramenfundus des Expressionismus von den Spinnweben.

Substrat des Expressionismus

Der Einakter der sträflich vernachlässigten Maria Lazar (1895– 1948) enthält das Substrat der ganzen wehen "Oh Welt"-Dramatik von vor hundert Jahren. Ein Mann in der Todeszelle verfällt angesichts des stündlich näherrückenden Hinrichtungstermins in Panik. Er wünscht, am Vorabend seiner Exekution (Tod durch das Beil) ausgerechnet mit seinem Henker (der famos krähende Martin Reinke) Bekanntschaft zu schließen.

Der anschließende Besuch durch eine "Dirne" (Sarah Viktoria Frick) ist schon deutlich weniger plausibel. Der hübsche Plausch zwischen den beiden betont den Status rätselhafter Auserwählung, die dem wie im Delirium daherredenden Delinquenten eignet. Der Mörder leidet wie Christus auf dem Ölberg. Aber er wünscht auch, das anonyme System, das ihm den Tod zudenkt, durch eine konkrete, gleichsam persönlich motivierte Sühne zu ersetzen. Mit deren Vorspiegelung stirbt es sich leichter.

So weit die Theorie. In der Praxis erlebt der Zuschauer einen metaphysischen Variantenthriller. Koležnik lässt ihre Handvoll Schauspieler jede Szene mehrmals durchdeklinieren. Dazwischen knistert leise, wie um Zustimmung oder Ablehnung zu bekunden, die Deckenlampe. Die linke Zellenwand aber wandert – mitsamt Klo und Waschbecken – auf der Drehbühne jedes Mal ins Off hinüber, auf der vom Zuschauer aus gesehen rechten Seite.

Es ist, als ob ewige Verdammnis die Figuren zur Repetition ihrer Handlungen zwänge. Und so beginnt der hübsch umgestülpte Abend mit dem finalen Röcheln des Todgeweihten (Tiran). Der im strahlenden Licht der Aufklärung den Staatsanwalt (Hans Dieter Knebel) verhöhnt. Der mit übereinandergeschlagenen Beinen wie ein junger, griechischer Gott auf der Abortschüssel thront.

Eigenwillige Betonung

Indem der israelische Starschauspieler den deutschsprachigen Text recht eigenwillig betont, löst sich der allseits mysteriöse Ton der seelischen Verlautbarungen in Nüchternheit auf. Der Wunsch des Täters, den Vollstrecker seines Todes kennenzulernen, versetzt das Personal in arge Nöte. Ist doch der Fernsprecher am Gang unausgesetzt besetzt. Gott im Himmel? Kein Anschluss unter dieser Nummer. Allmählich lässt der Mörder seinen Stolz fahren. Mit jeder Wiederholung des Zellenbesuchs wird aus dem Mädchen eine Erotikdienstleisterin mit wachsender Routine.

Es ist, als ob alle Beteiligten den Stoff wirksam herunterkühlen wollten. Sogar der Anstaltsgeistliche (Gunther Eckes) verwandelt sich umrisshaft in einen Reformpriester. Und so enthält ein kaum 20 Manuskriptseiten zählendes Drama das Instantpulver zu einer kleinen Geschichte der Moral. Keine Kleinigkeit. Sondern ein veritables Kunststück. Das Publikum nahm diese tolle Probe dramatischer Minimal Art bestürzt, aber auch begeistert auf. (Ronald Pohl, 5.12.2019)