Kein Ort wie jeder andere: die Antarktis-Station Neumayer III, benannt nach dem deutschen Polarforscher Georg von Neumayer aus dem 19. Jahrhundert.
Foto: Alfred-Wegener-Institut / Stefan Christmann, CC-BY 4.0

Berlin – Seit zehn Jahren ist die deutsche Antarktis-Station Neumayer III des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) in Betrieb. Der auf Stelzen errichtete Bau, der bis zu 60 Menschen Platz bietet, treibt auf dem Meer – allerdings innerhalb einer sehr massiven Schelfeis-Region von 200 Metern Dicke. Für die nächsten Jahrzehnte sollte der Bestand der Station gewährleistet sein, um auf den verschiedensten Gebieten – von der Meteorologie bis zur Unterwasserakustik – Forschung zu betreiben.

In stetem Turnus kommen und gehen dort die Wissenschafter; doch die, die gehen, haben sich verändert: Das berichten nun deutsche Forscher im "New England Journal of Medicine". Bei Menschen, die sich 14 Monate auf der Station aufhielten, seien Verkleinerungen in Teilbereichen des Hippocampus festgestellt worden, die für Gedächtnis und räumliches Denken zuständig sind. Was genau die Veränderungen im Gehirn auslöst, ist noch unklar.

Ein Ort zum Überwintern

Neumayer III ist ganzjährig besetzt: Über den antarktischen Winter von etwa Ende Februar bis Anfang November seien es neun Leute, sagt der Medizinisch-Logistische Koordinator der Station, Tim Heitland, der selbst 16 Monate dort lebte. An- und Abreise seien wegen des Wetters in dieser Zeit nicht möglich. Im antarktischen Sommer kämen bis zu 60 Menschen, auch für kürzere Aufenthalte.

Wer auf der Station überwintere, werde vorher detailliert untersucht und durchlaufe eine mehrmonatige Vorbereitung, so Heitland. Kälte, Orkanwinde und acht Wochen im Jahr ohne Sonnenaufgang: "Der Ort an sich ist extrem, die Bedingungen sind hart." Dabei sei die Antarktis natürlich auch wunderschön. "Auf der Station kann man sich wohlfühlen, auch wenn es kein Luxushotel ist."

An sich selbst habe er nach der Rückkehr in die Zivilisation auch Veränderungen bemerkt, ohne die Ursachen zu kennen, schilderte Heitland. Plötzlich gebe es wieder Gerüche, Konsummöglichkeiten und Verkehr. "Nach 14 Monaten mit einer kleinen Gruppe im Eis ist es Wahnsinn, in Kapstadt am Flughafen zu stehen."

Die Diagnose

So weit die subjektive Wahrnehmung – ein Team um Alexander Stahn von der Charite-Universitätsmedizin Berlin ist nun aber etwas weiter in die Tiefe gegangen und hat per MRT strukturelle Hirn-Aufnahmen von Expeditionsteilnehmern vor und nach ihrem Einsatz gemacht. Zudem wurden Blutproben der einbezogenen fünf Männer und vier Frauen analysiert und die Probanden regelmäßig kognitiven Tests unterzogen. Die Ergebnisse wurden mit denen einer Kontrollgruppe in Deutschland verglichen.

Bei den kognitiven Übungen gebe es normalerweise einen Lerneffekt, sagte Studienleiter Stahn. Je ausgeprägter die Gehirnveränderungen bei den Probanden gewesen seien, desto geringer sei ihre Lernkurve gestiegen. Angesichts des relativ jungen Alters von 25 bis 36 Jahren seien die Veränderungen im Gehirn überraschend stark ausgefallen. Für die Teilnehmer selbst seien sie nicht wahrnehmbar, zudem seien nicht alle neun Männer und Frauen in gleichem Maße betroffen gewesen.

Mögliche Ursachen

Ursachen sind verschiedene denkbar: Allgemeine Reizarmut durch monatelange Dunkelheit, eine wenig abwechslungsreiche Umgebung und eine geringe Zahl von Sozialkontakten, aber auch schlechter Schlaf oder Probleme in der Gruppe. Stahn hält es für wichtig, nach Möglichkeiten zu suchen, dem Effekt vorzubeugen, auch wenn er langfristige negative Folgen für die Betroffenen nicht erwartet: "Das Hirn in ist diesen Bereichen wahnsinnig anpassungsfähig. Ich gehe davon aus, dass diese Veränderungen reversibel sind." Bisher gebe es dazu aber keine Daten.

Die Forscher weisen zudem darauf hin, dass ihre Studie mit neun Teilnehmern sehr klein sei und die Ergebnisse deshalb vorsichtig zu interpretieren seien. Tierversuche hätten aber schon mehrfach schädliche Effekte von monotoner Umwelt und sozialer Isolation fürs Gehirn gezeigt. Besonders interessant wird es allerdings, wenn man die Ergebnisse auf den Raumfahrtbereich umlegt, der Menschen ähnlichen Bedingungen aussetzt. Nicht von ungefähr werden in der Antarktisstation immer wieder auch Aspekte untersucht, die für die Raumfahrt relevant sind.

Vergleichbarkeit mit Weltraummissionen

Tatsächlich wurden auch schon bei Raumfahrern Veränderungen im Gehirn festgestellt. Eine im Mai vorgestellte Studie hatte gezeigt, dass sich bei längeren Aufenthalten auf der Raumstation ISS bestimmte Hohlräume im Gehirn vergrößern. Zu vermuten sei ein Zusammenhang mit dem häufig beobachteten Verlust von Sehschärfe bei Raumfahrern, berichteten die Wissenschafter im Fachjournal "PNAS". Die Hirnventrikel – mit Hirnwasser gefüllte Hohlräume im Gehirn – vergrößerten sich demnach bei den elf untersuchten Kosmonauten während des Einsatzes um durchschnittlich fast zwölf Prozent. Auch nach sieben Monaten war noch eine deutliche Veränderung messbar.

Zuvor hatten Mediziner bereits berichtet, dass es im Gehirn von Raumfahrern auch ein halbes Jahr nach der Rückkehr von Langzeit-Missionen noch "großflächige Volumenänderungen" gibt. Betroffen war vor allem die sogenannte graue Substanz, die hauptsächlich Nervenzellen enthält. Es gebe Hinweise, dass die Auswirkungen auf das Gehirn größer sind, je länger die Menschen sich im Weltall aufhalten, hieß es. Ob die Veränderungen relevant für das Denkvermögen der Raumfahrer sind, sei noch unklar.

Neumayer III sei "ein extrem geeignetes Analogmodell für die Raumfahrt", sagt Heitland. Auch Fragen zum Immunsystem und zur Gruppendynamik seien dort schon untersucht worden. Veränderungen des Gehirns seien zum Beispiel mit Blick darauf von Interesse, wie sich die räumliche Orientierung entwickle, wenn man Menschen zum Mars schicke. (red, APA, 5. 12. 2019)