Kinder haben ein Talent dafür, die Entstehung einer Sprache voranzutreiben.

Foto: Brian Evans

Wie viele Sprachen heute auf der Erde existieren, ist weitgehend ungeklärt. Linguisten schätzen jedoch, dass es zwischen 5.000 und 7.000 sein müssen, Tendenz sinkend. Wie sich die Sprachen vor vielen Jahrtausenden entwickelt haben, ist Gegenstand zahlreicher Theorien, die einander teilweise widersprechen. Handfeste Belege für die Mechanismen, die hinter der Entstehung der Sprachen, gibt es kaum.

Nun haben Wissenschafter in einem Experiment versucht, den Prozess der Entwicklung eines neuen Kommunikationssystems nachzustellen – mit überraschenden Resultaten: Schon Vorschulkinder können spontan Kommunikationssysteme entwickeln können, die Kerneigenschaften von natürlichen Sprachen aufweisen.

Wenn man die lange Entwicklungszeit der gesprochenen Sprache im Hinterkopf behält, erscheint es noch viel erstaunlicher, was gehörlöse Menschen innerhalb von kürzester Zeit schaffen. Beobachtungen haben gezeigt: Wenn gehörlose Menschen in einer Gruppe zusammenkommen, entwickeln sie innerhalb von kürzester Zeit eine eigene Gebärdensprache. Das wohl bekannteste Beispiel ist die nicaraguanische Gebärdensprache, die in den 1980er Jahren entstand.

Dabei scheinen insbesondere Kinder die Entstehung einer Sprache voranzutreiben. Wie das genau vonstatten geht, sei allerdings nicht dokumentiert, sagt Manuel Bohn von der Universität Leipzig: "Wir wissen relativ wenig darüber, wie aus sozialer Interaktion Sprache wird. Hier setzt unsere neue Studie an."

Wege zur Verständigung

In dieser Studie haben die Forscher des Leipziger Forschungszentrums für Frühkindliche Entwicklung der Uni Leipzig und des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie versucht, genau diesen Prozess nachzubilden. Hierzu stellten die Wissenschafter eine Skype-Verbindung zwischen Kindern her, die sich in unterschiedlichen Räumen befanden. Dabei stellten sie den Ton ab – und konnten dann beobachten, wie die Kinder, ihrer Sprache beraubt, neue Wege fanden, miteinander zu kommunizieren.

Die Kinder bekamen die Aufgabe, den Inhalt eines Bildes zu kommunizieren. Bei konkreten Dingen wie einem Hammer oder einer Gabel, fanden die Kinder schnell eine Lösung, indem sie die dazugehörige Handlung (zum Beispiel essen) in einer Geste nachahmten. Im Laufe der Studie stellten die Forschenden die Kinder jedoch immer wieder vor neue Herausforderungen. Zum Beispiel führten sie ein weißes Blatt Papier als Bild ein. Das dargestellte "Nichts" lässt sich schwer nachahmen.

Neue Zeichen und sogar eine Grammatik entstehen

Gregor Kachel, Koautor der Studie, beschreibt, wie zwei Kinder diese Aufgabe dennoch meisterten: "Die Senderin versuchte zunächst allerhand verschiedene Gesten. Ihre Partnerin gab ihr jedoch zu verstehen, dass sie nicht wusste, was gemeint war. Plötzlich zog unsere Senderin ihr farbiges T-Shirt zur Seite und zeigte auf einen weißen Punkt auf dem T-Shirt. Da hatten die beiden einen echten Durchbruch: "Natürlich! Weiß! Wie das weiße Papier!" Als die Rollen getauscht wurden, hatte die Empfängerin zwar keinen weißen Fleck auf ihrem T-Shirt, allerdings wählte sie die gleiche Herangehensweise: Sie zog ihr T-Shirt zur Seite und zeigte darauf. Sofort wusste ihre Partnerin, was gemeint war. Die beiden hatten innerhalb von kürzester Zeit ein Zeichen für die Darstellung eines abstrakten Sachverhalts etabliert.

Im Laufe des Experiments wurden die darzustellenden Sachverhalte immer komplexer, was sich auch in den Gesten der Kinder wiederspiegelte. Um zum Beispiel eine Interaktion zwischen zwei Tieren darzustellen, fingen die Kinder an, separate Gesten für Akteure und Handlungen zu erfinden und diese zu kombinieren – so wurde eine Art kleine interne Grammatik geschaffen.

Gemeinsame Erfahrungen als Voraussetzung

Auf Basis der vorliegenden Studie im Fachjournal "Pnas" erscheinen folgende Schritte für die Entwicklung von Sprache plausibel: Zunächst werden Personen, Handlungen oder Gegenstände durch Zeichen dargestellt, die den Dingen ähneln. Voraussetzung hierfür ist ein gemeinsamer Erfahrungsschatz der Interaktionspartner. Dabei ahmen die Gesprächspartner auch einander nach, sodass sie die gleichen Zeichen für die gleichen Dinge verwenden. So gewinnen die Zeichen eine Bedeutung. Im Laufe der Zeit wird die Beziehungen zwischen den Zeichen und den Dingen immer abstrakter und die Bedeutung der einzelnen Zeichen spezieller. Grammatikalische Strukturen werden nach und nach eingeführt, wenn das Bedürfnis besteht komplexere Sachverhalte zwischen Dingen zu kommunizieren. Bemerkenswert ist, dass man diese Prozesse schon innerhalb einer halben Stunde beobachten kann.

Die Studie zeigt nicht nur, dass Sprache nicht allein auf Worte zu reduzieren ist. Sie zeigt ebenfalls, wie die ersten Schritte bei der Entstehung einer neuen Sprache aussehen könnten. "Daran schließen sich neue spannende Fragen an", sagt Bohn. "Es wäre sehr aufschlussreich zu sehen, wie sich die neu erfundenen Kommunikationssysteme im Laufe der Zeit und durch Weitergabe an neue ‚Generationen‘ verändern. Es gibt Hinweise, dass Sprache über die Zeit systematischer wird, es wäre sehr interessant, das zu überprüfen." (red, 8.12.2019)