Bitte alle einsteigen! Kraftwerk plädierten 1977 für die Erschließung Europas aus dem Geist des Retrofuturismus.

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Mit dem Florieren der Eisenbahn verbanden die edelsten Vertreter der Menschheit seit jeher Gedanken des Fortschritts. Von dessen Früchten sollten alle ohne Unterschied zehren können. Die unbändige Liebe zum Dampfross einte Jung und Alt: Arbeiter und Bauern (nachdem letztere ihren ersten Schrecken überwunden hatten). Sie vereinte Pendler und solche, die einst aus rein kontemplativen Gründen, etwa der schönen Aussicht wegen, den geschützten Bereich eines Eisenbahnabteils aufsuchten.

Aus lauter Freude am Schienenverkehr begannen dessen Parteigänger, sein Zustandekommen zeitlich zurückzuverlegen. Als der legendäre "Zeit"-Feuilletonchef Fritz J. Raddatz 1985 sinngemäß behauptete, der alte Goethe (gestorben 1832) hätte im Frankfurter Bahnhof die Lokomotiven einfahren gesehen, da kostete ihn diese stark irrige Behauptung den glänzend dotierten Job.

Als die Düsseldorfer Popavantgardisten Kraftwerk 1977 ihr fulminantes Album "Trans Europa Express" veröffentlichten, schienen sämtliche Weichen die gute, alte Eisenbahn auf das Abstellgleis zu befördern. Das elektronische Mantra von "Europa Endlos" glich einer listigen Verlustanzeige.

Kraftwerks Futurismus nahm sich so bestrickend aus, weil er strikt retrospektiv war. Wer auf sich hielt, verkehrte im wirklichen Leben schon längst individual. Der Wertschöpfungskette entsprach die Länge der Autokolonnen, die zu Ferienanfang den erwarteten Totalstau verursachten. Mit der drastischen Verbilligung der Flugtickets schien dem Bahnverkehr im kontinentalen Maßstab endgültig das Totenglöckchen zu läuten.

Riesige Fußabdrücke

Doch nun ist alles anders. Es musste die Umwelt aus dem letzten Loch zu pfeifen beginnen, um die Triebwagen der Nationalbahnen mit neuem Prestige auszustatten. Heute weiß jedes Kind, von Greta Thunberg abwärts: Wer fliegt, hinterlässt ökologische Fußabdrücke wie Rübezahl. Um wieviel besser hat es da die Bahnreisende. Sie kann Gutes tun (und öffentlichkeitswirksam auf Instagram stellen), sich in ein Abteil setzen und den Stunden müßig beim Verrinnen zusehen.

Bahnreisen bilden die schöngeistige Alternative zum Pferch der Transitorte. Wer heute allen Ernstes zum Vergnügen fliegt, kann beobachten, wie Fleisch und Blut, sozusagen in Echtzeit, zum Datensatz zusammengepresst werden. Umgekehrt weht durch die Abteile von Europas Fernzügen noch immer der zarte Angstschweißgeruch des 20. Jahrhunderts. Wer es sich zum Beispiel in den Kopf gesetzt hat, eine Stadt wie Gdansk (Danzig) via Bahn anzusteuern (Reisedauer von Wien aus: zehn Stunden), der bemerkt bald, dass er am hellichten Tage schwarzweiß "fernsehen" darf.

Immer noch riechen die klassischen Sechser-Abteile nach ungelüfteten Bauernkaten. Kunstlicht funzelt trübe durch die Gitterabdeckung. Osteuropäische Matronen schlüpfen eilig aus den Schuhen und entnehmen, noch ehe der Zug beim Bahnhof hinausgerollt ist, ihrer Tupperware belegte Brote. Jedes einzelne ist so groß wie eine eigene Woiwodschaft.

Europas Einheit

Man findet während vieler Stunden Gelegenheit, über das Wesen der europäischen Einheit zu meditieren. Bald schrumpfen aus der Perspektive des Zugreisenden riesige Bodenflächen zu "Flyover states" zusammen. Man gewahrt, dass auch anderswo die Früchte des gemeinnützigen Bauwesens faul geworden sind.

Die ersten Hiobsbotschaften, überbracht vom Zugpersonal, bleiben nicht aus. Der Speisewagen ist ausgerechnet heute nicht angekoppelt worden! Die Heizung hat in einigen Abteilen den Geist aufgegeben. Man bittet, die aufgetretenen Unannehmlichkeiten zu entschuldigen. Oh Wunder: Nach einem halben Tag ist es um einen geschehen. Bahnreisen in die entlegenen Ecken Europas versetzen in Trance. Der Zugreiseverkehr ist ein technologisches Unding, eine Erfahrung, nicht unähnlich dem Sprung auf einen Kutschbock.

Und doch scheint in ihm das ganze Pathos der Welterschließung enthalten. Langweile ist die wichtigste aller Produktivkräfte. Zugreisen gewährleisten den Anspruch auf eine Nähe, die den Abstand zu anderen Kulturen aufrecht erhält. Wenn jetzt noch die Bahnfirmen beginnen, ihre Heizungen zu reparieren, können AUA und Co. ihre fliegenden Kisten irgendwann einmotten! (Ronald Pohl, 4.12.2019)