Ein Demonstrant am Tahrir-Platz in Bagdad, einen Tag nachdem das irakische Parlament den Rücktritt von Premier Adel Abdel Mahdi angenommen hat. Für die Protestbewegung ist das nur der Anfang.

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Die Lage im Iran, wo nach neuesten Berichten in vier Protesttagen mindestens 180 Demonstranten getötet wurden, kann man vereinfachend so zusammenfassen: Ein autoritäres Regime, das sein System – und seine Gewaltausübung – mit dem Islam legitimiert und dessen höchste politische Instanz ein "religiöser Führer", Ali Khamenei, ist, geht brutal gegen Proteste gegen eben dieses System vor.

Im Nachbarland Irak, wo seit zwei Monaten protestiert wird, mit mittlerweile mindestens 420 Toten, hat soeben ein Mullah in die Politik eingegriffen – und dennoch kommt man mit einfachen Analysen über die Rolle von Religion in jener Weltgegend nicht weit: Regierungschef Adel Abdel Mahdi ist zurückgetreten, nachdem die höchste schiitische religiöse Autorität ihn dazu aufgefordert hat. Aber im Gegensatz zu Khamenei im Iran stellt sich der 89-jährige Ali Sistani explizit auf die Seite der Protestbewegung.

Sistanis Seitenhieb auf Iran

Dass eine Rede Sistanis ausreicht, um eine Regierung zu stürzen, mag irritieren: Es ist aber letztlich eine Entscheidung Abdel Mahdis. Denn Sistani hat keinerlei institutionalisierte politische Macht. Da der Premier zu Beginn der Proteste Anfang Oktober bereits aufgeben wollte und dies durch iranische Einflussnahme verhindert wurde, wird sein jetziger Rücktritt als "irakischer" Sieg gewertet. In seinem von seinem Repräsentanten verlesenen Statement konnte sich Sistani – der selbst aus dem Iran stammt, aber als 21-Jähriger ins irakische Najaf kam – einen Seitenhieb auf die Iraner nicht verkneifen. Die religiöse Führung werde das irakische Volk unterstützen, aber nur beratend, hieß es darin: "Am Ende ist es das Volk, das wählt, was es am besten für sich hält, ohne Wächterschaft." Damit ist das iranische System der "Herrschaft des Rechtsgelehrten" (velayat-e faqih) gemeint, das Khamenei im Iran die politische Macht verleiht.

Dass Teheran seinen Einfluss im Irak deshalb aufgibt, ist nicht zu erwarten. Dass die Iraner auch bei der Bildung einer neuen Regierung mitmischen wollen, zeigt die erneute kolportierte Ankunft des mächtigen Chefs der iranischen Qods-Brigaden, Ghassem Soleiman, zu Gesprächen in Bagdad.

Verfassungsmäßige Unsicherheiten

Die nach den letzten Wahlen 2018 zweitstärkste Liste im irakischen Parlament ist Teheran eng verbunden. Aber die Proteste, die im schiitischen Südirak besonders heftig sind, haben starke antiiranische Züge – was Teheran und seine irakischen Klienten dazu veranlasst, sie von außen gesteuert zu betrachten. Ayatollah Sistani sieht das offenbar anders.

Nachdem das irakische Parlament am Sonntag den Rücktritt von Abdel Mahdi angenommen hat, bleibt die alte Regierung zwar im Amt, aber Präsident Barham Salih muss sich auf die Suche nach einem neuen Premier, den er dann mit der Regierungsbildung beauftragen wird, begeben.

Dabei bestehen offenbar verfassungsmäßige Unsicherheiten, so hieß es unter anderem zuerst, Barham Salih würde die Regierung interimistisch führen. Und an sich hat der größte Parlamentsblock das Vorschlagsrecht, aber die Demonstranten fordern ja nicht weniger als die Entmachtung der alten korrupten Parteien. Ein neuerlicher Parteienkandidat wäre ein schlechtes Signal. Der Rücktritt Abdel Mahdis hat die Protestbewegung auch keineswegs besänftigt, die Demonstrationen gingen überall weiter.

Sistani hatte seine Entscheidung getroffen, nachdem vergangene Woche in Nassiriyah und in Najaf – wo Demonstranten auch am Sonntag wieder das iranische Konsulat angegriffen haben – innerhalb von zwei Tagen mehr als 40 Menschen getötet worden sind. In Nassiriyah machte eine von der Regierung eingesetzte "Kriseneinheit" regelrecht Jagd auf die Demonstranten, in Najaf werden Iran-freundliche Milizen hinter der Gewalt vermutet.

Kompromisskandidat

Adel Abdel Mahdi (77) wurde nach den Wahlen 2018 nach langer Suche als Kompromisskandidat zwischen den beiden stärksten Gruppen gefunden: der irakisch-nationalistischen Liste von Muqtada al-Sadr und der Iran-freundlichen von Hadi al-Amiri. Der Politveteran Abdel Mahdi, der in den Jahren nach dem Sturz von Saddam Hussein 2003 Vizepräsident, Finanz- und Ölminister war, führte die erste irakische Regierung nach dem Sieg gegen den "Islamischen Staat". Aber von einer Friedensdividende spürten die Menschen nichts.

An sich galt Abdel Mahdi nicht als Mann des Iran, sondern als eher unabhängig. In den vergangenen Wochen wurde seine Überforderung offensichtlich, er machte einen zynischen Eindruck. Sein Rücktritt bringt hoffentlich Bewegung in die Reformbemühungen. Zuallererst sollte ein neues Wahlrecht neuen Kräften eine Chance geben. Im Irak wird seit 2005 zwar regelmäßig gewählt, aber die Wahlen bestätigen bisher immer wieder die gleichen Kräfte, die ihre Ämter wie Pfründe verwalten – und die auch jetzt nicht so ohne weiteres weichen werden. (Gudrun Harrer, 3.12.2019)