Am Mittwoch begehen 29 Staats- und Regierungschefs in London das 70-Jahr-Jubiläum der Nato, jener Militärallianz, der der französische Staatspräsident Emmanuel Macron kürzlich den "Hirntod" bescheinigte und die Donald Trump einmal als "obsolet" bezeichnete. Zugleich kann niemand Angela Merkels Diagnose bezweifeln, Europa sei nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Deshalb bedroht bereits seit zweieinhalb Jahren die sprunghafte und unberechenbare Außenpolitik eines irrlichternden US-Präsidenten, der offen gegen ein vereintes Europa ist und der den britischen EU-Austritt unterstützt, auch die Sicherheit Europas.

Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron.
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In den letzten Wochen hat allerdings Präsident Macron durch seine auch in dieser Kolumne kommentierten Alleingänge ("Macrons dramatische Kehrtwende") die Nato und auch die Europäische Union in eine neue schwere Krise verstrickt. Wie der Leitartikler der Zeit treffend feststellte, wisse Merkel nicht, wen sie unter den Nato-Mitgliedern mehr fürchten solle: Trump oder Macron. Die Enthüllungen über einen Brief Macrons an Wladimir Putin in der heiklen Frage der Mittelstreckenraketen in Europa und seine jüngsten umstrittenen Formulierungen bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg haben nicht nur Polen und baltischen Nato-Staaten alarmiert. Auch der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) sprach offen aus, "Gedankenspiele über eine Entkoppelung amerikanischer und europäischer Sicherheit" machten ihm Sorgen, weil "sie entzweien auch Europa".

Politik der "Grandeur"

Kein Wunder, dass Macron hinter vorgehaltener Hand in der Nato-Zentrale bereits als eine "Westentaschenausgabe" seines großen Vorgängers, Charles de Gaulle, verspottet wird, der nach dem ratenweisen Rückzug 1966 den vollständigen Austritt aus dem integrierten Militärkommando der Nato beschloss. (Dieser wurde erst 2009 durch Präsident Nicolas Sarkozy rückgängig gemacht). In seiner ausgezeichneten De-Gaulle-Biografie (München 2019) beschreibt Johannes Wilms anschaulich die bedenklichen Folgen der Differenzen zwischen französischem Großmachtanspruch (die Politik der "Grandeur") und der wirklichen Bedeutung des Landes. Macron scheint die gleiche Vorstellung vom Wesen Frankreichs zu haben wie de Gaulle: Frankreich sei nur dann es selbst, wenn es den ersten Platz besetze. Ohne "Grandeur" könne Frankreich nicht Frankreich sein.

Der sprichwörtliche Berlin-Paris-Motor stottert seit einiger Zeit. Nach der überraschenden Wahl des neuen Führungsduos an der Spitze der SDP rechnen Beobachter mit einem vorzeitigen Ende der großen Koalition in Berlin. In den kommenden Wochen, ja Monaten, wird Deutschland in den zentralen außenpolitischen Fragen nicht entscheidungsfähig sein, und die auch für die Europapolitik so bedeutsame Bundeskanzlerin dürfte bald abtreten. Nicht nur die Nato, sondern auch die EU ist führungslos. Die europäische und transatlantische Solidarität wird trotz der Herausforderung durch China und Russland kaputtgeredet. Im Zeitalter des Klimawandels, des internationalen Terrorismus, des Rückzugs Amerikas und des isolationistischen Sonderweges Großbritanniens wirken die hyperaktiven, unberechenbaren und sprunghaften Rhetoriker in Paris und Washington beängstigend. (Paul Lendvai, 3.12.2019)