Zwei Wochen vor dem Nato-Gipfeltreffen in London und zum 70. Jahrestag der Gründung des Militärbündnisses sorgt der innenpolitisch unter Druck geratene französische Staatspräsident Emmanuel Macron mit seinen außenpolitischen Alleingängen für wachsenden Unmut und sogar für öffentlichen Aufruhr.

Vor allem wegen eines langen und für einen Staatschef beispiellos offenherzigen Interviews mit dem Wochenblatt "The Economist" wurde er von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem scheidenden EU-Ratspräsidenten Donald Tusk zurechtgewiesen.

Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron.
Foto: APA/AFP/POOL/ELIOT BLONDET

In der Tat handelt es sich um eine alarmierende Rhetorik und eine verblüffende Kehrtwendung gegenüber Russland und Ungarn. Europa sei am Rande des Abgrunds, sagte Macron, der der Nato den Hirntod bescheinigte und zugleich den Beistandsartikel fünf der Nato infrage stellte. Gepaart mit dem Anspruch auf eine Führungsrolle Frankreichs, plädierte er auch für den Aufbau einer strategischen Autonomie Europas. Allerdings werde das mindestens ein Jahrzehnt dauern und dazu gehöre, auch das Verhältnis zu Russland neu zu überprüfen, mit dem Ziel eines neuen „strategischen Dialogs“ mit Moskau. In einer Abschiedsrede beeilte sich Tusk seinem „lieben Freund“ zu widersprechen: Russland sei für dieses Europa nicht ein strategischer Partner, sondern ein strategisches Problem.

Frevelhafter Übermut

Im Herbst 2018 sagte Macron noch in einem TV-Interview: „Putins Traum ist es, die EU zu zerlegen.“ Damals bezeichnete zum Beispiel Viktor Orbán, Putins engster Freund in Osteuropa, den französischen Staatschef als seinen „Hauptgegner“ in der EU. Nun sagte Macron im "Economist"-Interview, er und Orbán verstünden die Russland-Frage ähnlich. Vielleicht gelinge es Orbán, dank seiner intellektuellen und politischen Schlüsselrolle in der Visegrád-Gruppe, diese, insbesondere Polen, von ihrer Sichtweise zu überzeugen.

All das zeigt, welche unglaubliche Kehrtwendung der Franzose in einem Jahr öffentlich vollzogen hat. Dass Macron zwei Wochen später bei dem Pariser Friedensforum, vor einem internationalen Spitzenpublikum, zum Schluss seiner Rede ausgerechnet die kürzlich verstorbene ungarische Philosophin Ágnes Heller, die schärfste Gegnerin Orbáns, zitierte, lässt seinen frevelhaften Übermut erkennen. In diesen Rahmen fügt sich auch die respektlose Tonart, in der er Großbritannien als „eine zweitklassige Macht außerhalb der EU“ abqualifizierte und das französische Veto gegen die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien begründete. Dass seine frühere engste Verbündete im EU-Rat, die deutsche Kanzlerin, von dem groß angekündigten neuen sicherheitspolitischen Konzept vorab nichts erfuhr, lässt die Ungeduld und Unberechenbarkeit Macrons in seiner Sucht nach sichtbaren Erfolgen vor den Kommunalwahlen im März erkennen.

Vor dem Hintergrund der außenpolitischen Eskapaden des französischen Staatschefs, des Zerfalls der Achse mit Merkel und der zu erwartenden Querschüsse Donald Trumps gegen die Nato-Partner, dürfte sich der Aufruf der designierten EU-Kommissionspräsidentin, Europa müsse „die Sprache der Macht lernen“, als bloße Makulatur der EU-Rhetorik erweisen. (Paul Lendvai, 18.11.2019)