Sie sind dort, wo die schlimmsten Verbrechen der Menschheit stattfinden: Völkermord, Krieg, Massaker, gewaltsames Verschwinden. Von der Wüste Mexikos über die Savannen Afrikas bis auf den Balkan. Überall bringen sie Knochen zum Sprechen und gehören darin zu den weltbesten: Das Argentinische Team der Forensischen Anthropologen (EAAF). Weil die Wissenschafter Lügen der offiziellen Geschichtsschreibung entlarven können, genießen sie unter Menschenrechtlern Kultstatus. "Sie sind die Rolling Stones der Forensik", sagt der Journalist Felipe Celesia, der gerade ein Buch über sie veröffentlicht hat.

Ihr Sitz ist eine nüchterne Lagerhalle in der alten Mechanikerschule der Marine vor den Toren von Buenos Aires. Dort wurden während der Militärdiktatur Regimegegner gefoltert. Heute ist der Komplex eine Gedenkstätte. Ein paar Plakatwände erinnern an die Erfolge der Forensiker: die Identifizierung fast aller vermissten Soldaten aus dem Falklandkrieg oder die Entdeckung und Identifizierung der Reste des kubanisch-argentinischen Revolutionärs Ernesto "Che" Guevara.

Im Wasser schnüffeln

In mehr als 40 Ländern waren sie bisher tätig, ein Plakat zeigt ihre neuesten Techniken, die von Drohnen bis zu Spürhunden reichen, die menschliche Überreste im Wasser erschnüffeln können. Rund 70 Mitarbeiter gehören dem Team an, von Informatikern über Architekten bis Physikern. Finanziert wird ihre Arbeit von Spendern, der Uno, durch Kurse und von der argentinischen Regierung.

Im Inneren der Lagerhalle liegen menschliche Knochen auf langen Tischen. Es herrscht Stille, während Luis Fondebrider sich über ein vergilbtes Skelett mit einer vierstelligen Nummer beugt. Die Größe der Schädeldecke lässt Rückschlüsse zu auf das Alter beim Todeseintritt, die Beckenknochen auf das Geschlecht und mögliche Mutterschaft.

Luis Fondebrider war schon dabei, als das Team der Forensischen Anthropologen in den 1980er-Jahren gegründet wurde.
Foto: Sandra Weiss

Das Gebiss und Bruchstellen an den Knochen geben nähere Auskunft über die Person und die Todesursache, ein DNA-Test im eigenen Labor bringt dann oft die letzte Bestätigung. "Männlich, Mitte 20 zum Todeszeitpunkt. Der Oberschenkel ist gebrochen", sagt Fondebrider. "Hier sieht man den Einschlag einer Kugel." Ein Folteropfer der Militärdiktatur? "Das wäre vorschnell", dämpft er die Erwartungen.

Fondebrider (55) eines der sechs Gründungsmitglieder, redet nicht mehr als unbedingt nötig und legt Wert auf absolute Präzision. Es kann jahrelang dauern, bis der Tote einen Namen bekommt und geklärt ist, was mit ihm passierte. Dazu müssen alte Archive und Publikationen durchgegangen und Zeitzeugen vernommen, der Fundort der Leiche analysiert, DNA-Proben von Verwandten abgenommen und im Labor verglichen werden. Es ist eine diskrete Sisyphosarbeit für Geduldige.

700 "Verschwundene" identifiziert

Bislang identifizierten die Wissenschafter 700 Verschwundene der Militärdiktatur. Forensische Anthropologie kombiniert Gerichtsmedizin mit Ausgrabungstechniken der Archäologie und Ermittlungsmethoden von Detektiven und Historikern. Auch psychologisch müssen sie ein Händchen haben, um mit den Familien der Opfer ebenso umzugehen wie aus vermeintlichen Tätern und Mitwissern Informationen herauszukitzeln. Die interdisziplinäre Herangehensweise ist ihre Innovation und Stärke.

Angefangen hat ihre Geschichte mit einer Tragödie: Die Militärdiktatur in Argentinien von 1976 bis 1983 hinterließ 30.000 Tote und Verschwundene und viele offene Fragen. "Die Familien wollten wissen, wo ihre Angehörigen waren. Aber weil alle Forensiker und Ermittler damals dem Apparat der Diktatur entstammten und Komplizen der Verbrechen waren, wandten sie sich hilfesuchend an den damals bekannten US-Experten Clyde Snow", erzählt Fondebrider.

Ein paar Knochen können viel Dankbarkeit bei Hinterbliebenen auslösen.
Foto: Sandra Weiss

Snow war einer der ersten Forensiker, der interdisziplinär arbeitete. Er war erschüttert vom Ausmaß der Gewalt in Argentinien. Bei einer Lesung über Exhumation an der Universität warb er Mitstreiter für eine Arbeit, die "schmutzig, deprimierend, aber für die Gesellschaft notwendig ist". Eine Gruppe Studenten nahm die Herausforderung an, darunter auch Mercedes Doretti, die heute die brisante Arbeit des Büros in Mexiko leitet und verschwundene Migranten und Opfer des Drogenkriegs sucht.

Gleich die erste Ausgrabung war eine Härteprobe, wie Journalist Celesia schildert. "Die Polizisten, die den Fundort sicherten, bedrohten die Studenten, und letztlich passten die gefundenen Überreste nicht zu den Gesuchten. Eigentlich wollten sie da schon hinschmeißen." Aber die Angehörigen insistierten. "Sie sind unsere Triebfeder", sagt Fondebrider.

Erschossen und in Zementfass entsorgt

Oft schon hat er erlebt, welche Dankbarkeit ein paar Knochen auslösen. Fondebrider überbrachte dem Schriftsteller Juan Gelman und seiner Frau 1989 die Nachricht, als ihr vor 13 Jahren von der Diktatur verschleppter und seither vermisster Sohn Marcelo identifiziert wurde – hingerichtet mit einem Kopfschuss und anschließend entsorgt in einem Fass mit Zement.

Eine Nacht verbrachte Fondebrider in der Wohnung des Paares und erklärte alle Details. Am nächsten Tag küsste die Mutter jeden einzelnen der Knochen, um sich von ihrem Sohn zu verabschieden. "Das Verschwindenlassen belastet die Angehörigen dermaßen, dass sie demjenigen, der dieser Folter ein Ende bereitet, auf ewig dankbar sind", sagt Celesia.

Strikte Neutralität als Voraussetzung

Das Erfolgsgeheimnis des Teams liegt dem Autor zufolge im Professionalismus, der Diskretion, im Teamgeist und strikter politischer Neutralität. Starallüren sind verpönt – schon aus Gründen der Sicherheit, denn oft führt sie ihre Suche in Krisengebiete. Sie intervenieren stets auf Bitten der Angehörigen oder im Auftrag der Vereinten Nationen, aber mit Billigung der jeweiligen Staaten.

Diese setzen ihnen freilich auch manchmal Grenzen, wenn das EAAF unbequeme Beweise zutage bringt. So beendete Mexikos Regierung 2016 abrupt das Mandat der Experten, die das Verschwinden von 42 Lehramtsstudenten untersuchten. Die Forscher hatten herausgefunden, dass die offizielle These von der Verbrennung der Studenten auf einer Müllkippe nicht haltbar war.

Erfolge in Argentinien

In Argentinien hingegen war die juristische Aufarbeitung erfolgreicher. Rund tausend Militärangehörige wurden wegen Menschenrechtsverbrechen in der Diktatur verurteilt. In etwa 80 Fällen waren Beweise der Forscher dafür ausschlaggebend.

"Wir sind davon überzeugt, dass Gesellschaften solche Traumata nur dann aufarbeiten können, wenn sie die Wahrheit kennen und die Verantwortlichen bestraft werden", sagt Fondebrider. Und dafür brauche es klare, wissenschaftlich fundierte Beweise. (Sandra Weiss aus Buenos Aires, 16.11.2019)